Renatae litterae

Latein am Anfang einer neuen Zeit

Abschiedsvorlesung am 27. 7. 2000

Meine Vorlesung dieses Sommersemesters war der lateinischen Literatur des deutschen Humanismus bis zum Vorabend der Reformation gewidmet. Es schien mir für diese letzte Stunde sinnvoll zu sein, zusammenfassend den Stellenwert der lateinischen Sprache in der Zeit um 1500 zu betrachten, weil ja mit der Hinwendung zum klassischen Latein, wie wir sie bei den Humanisten finden, auch bestimmte Überzeugungen und Erwartungen verbunden waren, die sehr viel über die Mentalität jener Menschen aussagen, die am Beginn der Frühen Neuzeit das geistige Leben in Deutschland bestimmten. Dabei hat sich mir auch die spannende Frage gestellt, ob wir heute am Vorabend eines neuen Jahrtausends mit der lateinischen Sprache vergleichbare oder vielleicht ganz andere Überzeugungen und Erwartungen verbinden, oder ob Latein vielleicht inzwischen zu einem Curiosum geworden ist, das in dumpfer Schulstube seinem ohnehin absehbaren Ableben entgegendämmert. Ich will also im ersten Teil dieser Vorlesung den Umgang der Humanisten mit dem Lateinischen zusammenfassend darstellen, dann einige der Gründe in Erinnerung rufen, die zu einem fast kontinuierlichen Rückgang des Lateinischen seit der Reformation geführt haben, um zum Schluß den Blick auf die gegenwärtige Situation zu lenken und auf einige Tendenzen hinzuweisen, die mir für dieses Thema bemerkenswert erscheinen.

Als im Jahre 1456 einer der ersten deutschen Humanisten, der aus einfachsten Verhältnissen stammende Peter Luder, in Heidelberg seine Vorlesungstätigkeit ankündigte, sagte er unter anderem:(1) „Kurfürst Friedrich wünscht die schon fast in Barbarei verwandelte und verfallene lateinische Sprache an seiner Universität zu erneuern und er hat deshalb angeordnet, daß die humanistischen Studien, d. h. die Werke der Dichter, Redner und Geschichtsschreiber, öffentlich behandelt werden ... Wenn demzufolge jemand um einen lateinischen Stil bemüht ist und sich darin ausbilden will, dann möge er sich die Werke der humanistischen Wissenschaften zu eigen machen, der Bildung ein aufnahmewilliges Ohr leihen und es nicht verschmähen, diese Studien zu hören." Und 6 Jahre später kündigt er eine Terenzvorlesung in Leipzig u. a. mit den Worten an:(2) „Wenn die Interessenten meiner Terenzvorlesung sich außerdem in der menschlichen Sprache bilden und mit der Kunst des Stils vertraut machen wollen, damit sie nicht immerfort durch sogenanntes Küchenlatein (culinario, ut aiunt, Latino) die Ohren der Menschen beleidigen, sondern durch Schulung in der treffsicheren Wortwahl einmal jene abscheuliche Barbarei vermeiden, dann werden sie erwägen, sogar die ganze Vorlesung zu hören." Erneuerung der Sprache, der menschlichen Sprache, wie Peter Luder sagt, und er versteht dabei das Lateinische als die allein dem gebildeten Menschen zukommende Sprache, steht am Anfang jener Epoche in Deutschland, die wir gemeinhin als die Frühe Neuzeit bezeichnen. Was kritisiert wird, ist ein barbarischer Zustand der Ausdrucksweise, die dem Jargon des Küchenpersonals entspricht. Der unvergessene Münchner Gräzist und Humanismusforscher Rudolf Pfeiffer hat in einer kleinen Studie(3) gezeigt, wie der italienische Humanist Lorenzo Valla in seiner Auseinandersetzung mit Poggio Bracciolini um ein korrektes Latein gerade das aus der antiken Komödie bekannte Küchenpersonal herbeigezogen hat, um durch dieses ein fehlerhaftes Latein vorzuführen. In der antiken Komödie stammen bekanntlich die Sklaven, die u. a. als Köche auftraten, aus Syrien, Kleinasien oder Nordafrika; Latein war auf jeden Fall nicht ihre Muttersprache. In Vallas Inszenierung seiner Kontroverse mit Poggio ist der Koch bezeichnenderweise ein Deutscher, zwar sprachkundiger als Poggio selbst, aber doch ein Vertreter einer Diktion, den der um die Reinheit des klassischen Lateins bemühte Valla nur als barbarus bezeichnen konnte. Dieses von den italienischen Humanisten den transalpini beigelegte Verdikt des Barbaren, der sich nicht menschlich, d. h. gebildet und d. h. wiederum lateinisch ausdrücken konnte, griffen die frühen deutschen Humanisten selbstkritisch auf. Sie kannten den Nachholbedarf, der an den deutschen Hohen Schulen herrschte und sahen, wie etwa Peter Luder, die Begegnung mit den antiken Autoren zunächst ganz vorrangig unter dem Gesichtspunkt einer neuen Spracherziehung. Jenes aus lateinischen Wörtern zusammengesetzte Kauderwelsch, das die Freunde Reuchlins in ihren Dunkelmännerbriefen(4), den Epistolae obscurorum virorum, den Kölner Dominikanern und Dunkelmännern in den Mund legten, war nur der sprachliche Ausdruck einer geistigen und sittlichen Barbarei, aus der die Wiederentdeckung der antiken Autoren zu befreien versprach.

So sah es auch immer wieder Konrad Celtis. In seiner vielbehandelten Apollo-Ode(5) ruft er die Musen und ihren Anführer nach Deutschland, damit der barbarus sermo und alles Dunkle verschwinde. Hand in Hand mit der Reinigung der Sprache geht die Aufklärung, und die als Dunkel empfundene spätscholastische Welt, deren Denkweise die Universitäten weitgehend beherrschte, soll der Helle weichen, welche die studia humaniora verbreiten. Ohne Mühe lassen sich diese Zeugnisse vermehren. Ein Beispiel sei wenigstens noch genannt: In seiner humanistischen Programmrede(6), die Celtis am 31. August des Jahres 1492 an der Universität Ingolstadt, d. h. an unserer Vorgängeruniversität, gehalten hat, führt er u. a. aus (Kap. 4, 8f.): „Denn was nützt es, viel zu wissen, Schönes und Erhabenes zu verstehen, wenn es einem versagt ist, darüber mit Würde, Eleganz und Nachdruck zu sprechen, und wenn wir unsere Gedanken der Nachwelt nicht weitergeben können?" Und weiter: „Nichts erweist einen Mann als gelehrt und gebildet außer Feder und Zunge; beide aber lenkt die Beredsamkeit."



Latein am Anfang einer neuen Zeit bedeutet also zunächst die als Glücksgefühl empfundene Neu- und Wiederentdeckung einer vollendeten Sprachkunst und damit auch der literarischen Werke, die in dieser als vollendet empfundenen Sprache verfaßt waren. Die Neuentdeckung der Sprache und der klassischen Werke ist aber nichts anderes als eine im Sprachlichen konkretisierte Geisteshaltung, die, ausgehend von den italienischen Humanisten, in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts mächtig nach Deutschland übergriff und in den Jahren vor und nach 1500 ihren stärksten Ausdruck fand. Und diese Geisteshaltung war nicht etwa nur rückwärts gewandt zu den Autoren und Texten der Antike, sondern sie war bestimmt durch eine Aufgeschlossenheit und Offenheit für Erfindungen und Entdeckungen, die schon bald über das von den Alten Vermittelte hinausführen sollte. Das läßt sich trefflich an dem aus Königsberg in Unterfranken stammenden Johannes Müller, genannt Regiomontanus, zeigen.(7) In seiner Nürnberger Offizin druckt er antike Werke zur Astronomie und neuere Erklärungen dazu, er bemüht sich um einen gereinigten, authentischen Text und besorgt damit auch das Geschäft des Philologen. Als echter Humanist begeistert er sich auch für die „schöne" Literatur. Für sich selbst fertigt er z. B. eine Abschrift der Tragödien des Seneca an.(8) Gleichzeitig führt er aber die in den alten astronomischen Texten gefundenen Angaben über Planetenkonstellationen weiter und schafft damit ein Werkzeug zur Ortsbestimmung, das den Entdeckungsfahrten der 90er Jahre des 15. Jh.s.unschätzbare Dienste leistete. Kein geringerer als Christoph Kolumbus hat diese Tabellen benützt.(9) Humanistische Geisteshaltung bleibt also nicht beim Nachweis sprachlicher Korrektheit der Texte stehen und rezipiert selbstgenügsam den darin vermittelten Inhalt, sondern nimmt die wiederentdeckten und gereinigten Texte zum Anlaß, aus ihren Inhalten Anstoß und Anregung für eigene Entdeckungen und Forschungen zu gewinnen.





Dabei wird das Latein der alten Autoren nicht sklavisch nachgeahmt, sondern es ist ein überaus lebendiges und auch sprachschöpferisch genutztes Latein, das uns in den Texten dieser Jahre entgegentritt. Es ist ein alter Streitpunkt unter den Philologen, wann Latein zu einer toten Sprache geworden sei.(10) Ich meine aber, daß etwa die Art, wie ein Konrad Celtis mit dem Lateinischen umging, durchaus noch etwas Lebendiges und Natürliches an sich hatte. Sklavische Imitation und ängstliche Beachtung einer allein an Cicero und Caesar orientierten Regelgrammatik war nicht seine Sache: Die Consecutio temporum ist für ihn kein ehernes Gesetz, die Verwendung der Konjunktionen und der Modi zeigt jene Freiheit und Lebendigkeit, welche uns auch in den Texten der Spätantike entgegentritt. Gekünstelte scholastische Wortbildungen und Termini lehnt er ab, scheut sich aber keineswegs, nach den Wortbildungsgesetzen der lateinischen Sprache gebildete Formen zu verwenden, auch wenn diese bei Cicero nicht belegt sind, und selbst neue zu schaffen. Was ich hier pauschal beschrieben habe, bedarf noch der philologischen Detailuntersuchung. Aber dabei zeigt sich sogleich das ganze Elend der gegenwärtigen Humanismusforschung in Deutschland. Wir finden zwar in den letzten Jahren eine immer stärker anschwellende Flut von Aufsätzen, die das Geistesleben der frühen Neuzeit unter allen nur denkbaren Aspekten beleuchten, aber es fehlt weitgehend an der Grundlagenforschung oder sie schreitet so langsam voran, daß erst künftige Generationen davon werden profitieren können. Ich nenne drei Beispiele:

Vor 10 Jahren hatte eine meiner Erlanger Schülerinnen das Vorhaben, einen Kommentar zur Norimberga des Celtis zu schreiben. Auf eine Anfrage bei dem im Rahmen einer schon seit 1976 angekündigten kritischen Celtis-Gesamtausgabe für die Norimberga zuständigen Bearbeiter ergab die Antwort, daß die Edition weitgehend fertiggestellt sei. Die Doktorandin wandte sich daraufhin einem verwandten Thema zu, kommentierte die Noriberga des Humanisten Eobanus Hessus und hat diese Arbeit inzwischen publiziert.(11) Von der angekündigten Celtis-Ausgabe ist dagegen bis heute kein einziger Band erschienen. Beispiel 2: 1997 erschien der 4. Band der Korrespondenz des Nürnberger Patriziers und Humanisten Willibald Pirckheimer. Die Edition der etwa 1500 erhaltenen Briefe begann 1940, der 3. Band erschien 1989, aber immer noch warten ca. 700 Briefe auf die Edition. Diese wird sich wohl noch Jahrzehnte hinziehen.(12) Und zu schlechter Letzt ein drittes Exempel. Ich wollte mich für diese Vorlesung über die neuesten Reuchlin-Editionen kundig machen. Die Auskunft, die der aktuelle bayerische Verbundkatalog via Internet gibt, lautet für die Hauptwerke Reuchlins:

De verbo mirifico. 1494 (Ndr. Stuttgart/Bad Canstatt 1964; Wien 1996); Augenspiegel. Tübingen 1511 (Ndr. München 1961); De accentibus et orthographia linguae Hebraicae libri tres. Hagenau 1518; usw. Lediglich seine Schrift De arte cabalistica libri tres von 1517 hat größeres philologisches Interesse gefunden, aber in Monographien und Übersetzungen, die in Florenz, Paris und New York erschienen sind.(13)



Das heißt aber mit anderen Worten: Erst wenn die Grundlagenarbeit der Editionen geleistet ist, und das geht nicht ohne die entsprechende interdisziplinäre Zusammenarbeit mit der entsprechenden finanziellen Ausstattung, können verläßliche Untersuchungen zu Sprache und Stil der Autoren in größerem Umfang vorgelegt werden. Unter diesem Vorbehalt stehen auch meine zum Latein des Celtis gemachten Äußerungen. Unzweifelhaft geht er aber mit der Sprache souverän um und ist keineswegs ängstlich darauf bedacht, nur den Sprachgebrauch Caesars und Ciceros zu imitieren. Der lateinische Text seiner Ingolstädter Rede würde demnach unter Kriterien des heutigen Staatsexamens bestenfalls mit „ausreichend" bewertet werden können.



Diesem souveränen Umgang mit dem klassischen Latein entspricht bei Celtis, wie bei Regiomontanus, auch ein souveräner Umgang mit den Inhalten der Texte: Celtis sucht, ausgehend von den Nachrichten, die er bei antiken Autoren vorfand, das Interesse für das deutsche Altertum zu wecken. Eine Schlüsselrolle nimmt dabei die Germania des Tacitus ein, die er selbst im Jahre 1500 herausgibt.(14) Dort findet er Nachrichten über die Sittenreinheit der alten Germanen, die für ihn Vorbildcharakter gewinnen für eine sittlich-moralische Erziehung Deutschlands. Er findet aber auch, daß die Informationen der alten Autoren über das östliche Germanien höchst unvollkommen sind, und nicht zuletzt deshalb sieht er es auch als seine Lebensaufgabe an, nach dem Vorbild des Italieners Flavio Biondo(15) eine weitgehend auf Autopsie beruhende geographisch-kulturgeschichtliche Beschreibung des deutschen Siedlungsraums zu geben, seine berühmte, nie vollendete Germania illustrata. Seine Beschreibung Nürnbergs und des Hercynischen Waldes, also der deutschen Mittelgebirge, sind gleichsam Probekapitel daraus.(16) Das aus heutiger Sicht Irritierende daran ist allerdings die Tatsache, daß er dieses Unternehmen mit dem er doch den Wissensstand nicht zuletzt der Deutschen zu heben gedenkt, in lateinischer Sprache zu realisieren beabsichtigt. Gerade von germanistischer Seite wurde wiederholt darauf hingewiesen.(17) Wenn man jedoch bedenkt, daß Latein um 1500 die Sprache der Wissenschaft schlechthin war, dann ist es geradezu eine Selbstverständlichkeit, daß die neuen Erkenntnisse eben auf Lateinisch verbreitet werden, auch wenn sie einen vor allem die Deutschen betreffenden Inhalt haben. Auch die Entdeckungsberichte des Amerigo Vespucci und die Briefe des Columbus(18) wurden sofort ins Lateinische übersetzt, damit so ihre internationale Verbreitung gesichert war. Das gleiche gilt für das Narrenschiff des Sebastian Brant.(19)



Diese internationale Verbreitung lateinisch geschriebener Texte wurde durch das neue Medium des Buchdrucks entscheidend gefördert. Die Humanisten waren, sobald diese Erfindung sich zu verbreiten begann, uneingeschränkte Befürworter der neuen Technik. Sie bedienten sich nicht nur ihrer, sondern priesen sie in den höchsten Tönen. So lesen wir in der 9. Ode des dritten Odenbuchs des Celtis folgende Verse zum Lobe der Druckkunst:(20)

„Warum lärmt Griechenland mit so großem Selbstlob und tönt, es habe durch seine Gelehrten herausgefunden, nach welchem Gesetz die Natur die strahlenden Gestirne des Himmels lenke? Glaubt mir, nicht geringer als Dädalus oder als Kekrops, der die Buchstaben erfand, ist der Mann, der aus der Bürgerschaft von Mainz stammt, der Ruhm Deutschlands. Er goß in kurzer Zeit feste Typen aus Erz und lehrte, mit umgedrehten Buchstaben zu schreiben. Nichts Nützlicheres, glaubt mir, konnte in allen Jahrhunderten erfunden werden! Nunmehr werden endlich die Italiener die Deutschen nicht mehr wegen stumpfer Trägheit herabsetzen können, weil sie sehen, daß durch unsere Kunstfertigkeit der römischen Literatur Jahrhunderte lange Dauer zuwächst."



Der Nachfolger auf dem Lehrstuhl des Konrad Celtis in Wien, der St. Gallener Humanist und spätere Reformator Joachim Vadian, äußert sich zum gleichen Thema, wobei er besonders die Qualität der Drucke hervorhebt. Ich zitiere in Anlehnung an eine Übersetzung von Stephan Füssel:(21) „Die vom fruchtbaren Nilstrome mit seiner Gunst beschenkten Ägypter wiederholen immer wieder ihre Lobpreisung für ihren Gott Hermes, da er als der allererste Erfinder der Buchstaben der Nachwelt das Licht der Wissenschaft geschenkt hat. Der Grieche preist aufmerksam Kadmos, den Sohn des Agenor, als Schöpfer einer bereits weiter entwickelten Schrift. Die Buchstabenbilder, die er seinen Landsleuten von seinem Bruder Phönix mitgebracht hatte, führte attischer Geist auf ein noch höheres Niveau und fügte sie zu Literatur, würdig, der Nachwelt überliefert zu werden. Die Lateiner schreiben Carmentis, der Mutter und Nährerin des alten Euander, den Ruhm zu, jene Buchstabenformen, die in kultivierten Schriften Verwendung finden, nach Latium gebracht zu haben, als sie auf der Suche nach einem neuen Wohnsitz ihre Heimat verließ. Der Deutsche jedoch, der Buchstaben aus Metall goß und den Beweis antrat, daß durch einen einzigen Druckvorgang in der Presse durchaus die Tageshöchstleistung flinker Schreiberhände wettgemacht wird, überstrahlt sämtliche Erfindungen der Alten; gepriesen und unendlich glücklich sei er! Um wieviel besser ist es, den Geist zu bilden als den Körper. Wenn ein Mensch jetzt etwas schreibt, ist er bereits ein Drucker, denn was man jetzt liest und wodurch man seinen göttlichen Verstand regelmäßig speist, das stellt die Qualität der Metalllegierung zur Verfügung. Wenn Hermes am Leben wäre, und ebenso Kadmos, wenn er direkt aus dem Reich der Schatten zurückkäme, und Carmentis, käme sie aus der Unterwelt zurück, sie alle würden dem Rhein danken, wenn sie sähen, wie Griechisches und Hebräisches und alles, was früher mit der Hand geschrieben wurde, mit bloßen Bleilettern gedruckt wird, und zwar in der gleichen hervorragenden Qualität wie jetzt Lateinisches gedruckt wird."



Die beiden Texte zeigen deutlich, wie die Humanisten am technischen Fortschritt der Zeit Anteil nahmen. Celtis hatte in seinem Gedicht zunächst nur an die Verbreitung der lateinischen Literatur gedacht und die Leistung Gutenbergs in Konkurrenz zu den Italienern gesehen, aber er hatte auch erkannt, daß durch den Buchdruck die Möglichkeit gegeben war, den Schatz der lateinischen Literatur jetzt dauerhaft zu besitzen. Vadian preist den Fortschritt in der Druckkunst, der sich nun nicht mehr auf lateinische Bücher beschränkte, sondern die Werke der drei heiligen Sprachen, Hebräisch, Griechisch und Lateinisch, in hoher Qualität verbreiten half. Er sieht die Leistung Gutenbergs als den Endpunkt einer Entwicklung von der Erfindung der Buchstaben, d.h. der Hieroglyphen, in Ägypten bis zu der durch Carmentis nach Latium gebrachten lateinischen Schrift. Er sieht außerdem an die Stelle des Schreibers den Drucker treten. Allerdings konnte er nicht ahnen, daß diese Vorstellung 500 Jahre später in der Tat Wirklichkeit geworden ist. Denn man kann den Gedanken leicht fortspinnen und sich überlegen, mit welcher Begeisterung ein Celtis oder Vadian die Möglichkeiten der elektronischen Verbreitung und Herstellung von Texten begrüßt hätten. Jetzt ist jeder in der Tat sein eigener Drucker. Und Vadian betont ja gerade den Zeitgewinn, den der Druck gegenüber der Handschrift mit sich brachte. Die Verbreitung der Drucke selbst war aber damals immer noch eine zeitaufwendige und kostspielige Angelegenheit, auch wenn bald höhere Auflagen erreicht wurden. Vadian z. B. ließ immerhin die Florus-Ausgabe des Aldus Manutius in 1000 Exemplaren in Wien nachdrucken.(22) Aber die Möglichkeit, einen Großteil der Weltliteratur jederzeit und in Sekundenschnelle in der Schreibstube zur Verfügung zu haben, hätte mit Sicherheit jene Humanisten zu langen Elogen verführt und sie hätten wohl in jenen Zeitgenossen, die sich als digitale Analphabeten einem solchem Fortschritt verschließen, echte viri obscuri erkannt. Und wie begeistert hätten sie, die leidenschaftlichen Briefschreiber, sich des Mediums der E-Mail bedient, das es ermöglicht, Briefe in Sekundenbruchteilen zu verschicken und in kürzester Zeit eine Antwort zu erhalten.



Die Wiedergewinnung einer von scholastischen Abstrusitäten gereinigten lateinischen Sprache, die Neugewinnung des Griechischen und des Hebräischen, die Verbreitung der alten Texte ebenso wie der eigenen Produktionen durch eine neue Technik, dazu noch die Überzeugung, durch diese technische Errungenschaft endgültig die Überlegenheit über die Italiener zu beweisen, all das konnte durchaus den Eindruck entstehen lassen, eine goldene Zeit der Künste und Wissenschaften sei angebrochen. Bekannt sind jene Worte Ulrichs von Hutten, der am 25. Oktober 1518 an Willibald Pirckheimer schreibt O saeculum, o litterae! Iuvat vivere ... vigent studia, florent ingenia, und Erasmus hatte schon zwei Jahre vorher die Ansicht geäußert, daß ein Goldenes Zeitalter komme.(23) Wichtig dabei ist auch das Faktum, daß mit der Verbreitung der antiken Texte auch die Verbreitung der antiken Naturwissenschaft einherging. Der Aufbruch des Humanismus war nicht eine Angelegenheit von Schöngeistern, die in verzückter Selbstgenügsamkeit sich nur den Werken der schönen Literatur zuwandten, sondern dieser Aufbruch vollzieht sich im Kontext einer großartigen Erweiterung des Weltbildes. Damit bahnte sich aber auch gleichzeitig die Überwindung jenes zukunftsgläubigen Humanismus an, wie er uns in den Jahrzehnten um 1500 begegnet.(24)



Zunächst aber brachte die Reformation einen gewaltigen Einschnitt und einen Rückgang des Interesses an den Studia humaniora. Der gleiche Erasmus schrieb anläßlich des Todes von Jakob Wimpheling 1528, er wisse nicht, ob er klagen oder dem Verstorbenen Glück wünschen solle, daß er einer Zeit entkommen sei, die über jede Vorstellung verderbt und zuwider sei.(25) Auch Melanchthons Briefe und Reden seit 1522 sind voll über den Verfall der Wissenschaften. Die theologischen Eiferer im Gefolge der Reformation, nicht etwa die alten Scholastiker, haben mit ihrem barbarischen Gezänk die Musen vertrieben.(26) Aber Luther und Melanchthon haben die Mißstände nicht nur beklagt, sondern gehandelt. Das ist gut belegt und oft dargestellt worden, so daß hier einige grundsätzliche Feststellungen genügen:



In seiner berühmten Schrift(27) von 1524 „An die Ratsherren aller Städte deutsches Lands, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen" erinnert Luther daran, daß die Sorge um die Bildung der Jugend für eine Stadt ebenso wichtig ist wie die Sorge um die Sicherheit der Bewohner. Er sagt: „Muß man jährlich so viel wenden an Büchsen, Wege, Stege, Dämme und dergleichen, damit eine Stadt zeitlich Friede und Gemach habe, warum sollt man nicht auch so viel wenden an die dürftige arme Jugend, daß man einen geschickten Mann oder zween hielte zu Schulmeistern." Die Sorge um die Bildung, auch der minderbemittelten Einwohner, wird also ausdrücklich als eine grundlegende Aufgabe der Stadt bzw. des Staates gesehen. Und Luther fährt noch deutlicher fort: „Einer Stadt Gedeihen liegt nicht allein darin, daß man große Schätze sammele, feste Mauern, schöne Häuser, viel Büchsen und Harnisch zeuge, ja wo des viel ist und tolle Narren darüber kommen, ist's um desto ärger und desto größerer Schade derselben Stadt. Sondern das ist einer Stadt bestes und aller reichstes Gedeihen, Heil und Kraft, daß sie viel feiner, gelehrter, vernünftiger, ehrbarer, wohl gezogener Bürger hat, die könnte darnach wohl Schätze und alles Gut sammeln, erhalten und recht brauchen." Wenn auf dem vor einigen Wochen in Berlin durchgeführten Bildungskonkreß der Bundespräsident und die Bundesbildungsministerin in Übereinstimmung mit unserem Wissenschaftsminister ebenso wie schon Luther wieder einmal größere finanzielle Anstrengung für die Bildung fordern, dann sieht man daran, wie bedingt der Fortschritt in 500 Jahren europäischer Bildungsgeschichte ist.



Durch Luther und Melanchthon haben bekanntlich die alten Sprachen diejenige Stellung in den weiterführenden Schulen erhalten, die sie, nicht zuletzt dank der Humboldtschen Gymnasialreform, bis in unser Jahrhundert, immer wieder von der einen Seite angefeindet und von der anderen in wohlmeinenden Apologien verteidigt,(28) so leidlich behaupten konnten. Luther sah bekanntlich einen engen Zusammenhang zwischen der altsprachlichen und der muttersprachlichen Bildung, wenn er in der gleichen Schrift die oft zitierten Sätze schreibt: „Die Sprachen sind die Scheiden, darin dies Messer des Geistes steckt. Sie sind der Schrein, darin man dies Kleinod trägt ... Ja wo wir's versehen, daß wir die Sprachen fahren lassen, so werden wir nicht allein das Evangelium verlieren, sondern wird auch endlich dahin geraten, daß wir weder lateinisch noch deutsch recht reden oder schreiben können. Da laßt uns das elend greuliche Exempel zur Beweisung und Warnung nehmen in den hohen Schulen und Klöstern, darin man nicht allein das Evangelium verlernet, sondern auch lateinische und deutsche Sprache verderbet hat, daß die elenden Leute schier zu lauter Bestien worden sind, weder deutsch noch lateinisch recht reden oder schreiben können; und beinahe auch die natürliche Vernunft verloren haben."(29)



Gleichwohl brachte die Reformation, nicht zuletzt durch Luthers Bibelübersetzung, auch einen gewaltigen Anstoß zur Entwicklung der deutschen Sprache, die auf vielen Gebieten in Konkurrenz zur lateinischen trat. Schon Luther mußte Front machen gegen Tendenzen, die am Nutzen der Artes zweifelten. Er zitiert die Bildungsfeinde mit den Worten: „Was ist uns nütze, Lateinische, Griechische, Ebräische Sprache und andere freie Künste zu lehren? Könnten wir doch wohl Deutsch die Bibel und Gottes Wort lernen, die uns genugsam ist zur Seligkeit."(30) Max Wehrli hat seinem Aufsatz „Latein und Deutsch in der Barockliteratur" darauf hingewiesen, daß sich die volkssprachliche Bibeldichtung, nicht zuletzt im Sinne der Mystik, stets „als demütige, aber autorisierte Antwort auf das Evangelium aus innerster Berufung" verstanden habe.(31) Und er fährt fort: „Von dieser spiritualistischen Rechtfertigung der Muttersprache und des gemeinen Mannes her wird nun umgekehrt das Latein als Sprache der römischen Kirche, der Hoffart, der Buchstabengelehrten, [...] Babels denunziert. Die Abschaffung der römisch-lateinischen Liturgie ist die Folge wie auch wieder die Ursache einer seit Luther radikalen Aufwertung der Volkssprache und damit vielleicht der entscheidende Grund, daß im protestantischen Teil Deutschlands trotz dessen Humanismus das Latein zuerst obsolet wurde."(32)



Umgekehrt erfährt im Zuge der Gegenreformation und durch den Jesuitenordnung das Latein im katholischen Süden und Westen eine neue Blüte, Latein wird, um nochmals Wehrlis Formulierung(33) zu verwenden, „ein überregionales, ja internationales, imperiales und katholisches Medium [...]. Die enge Verbindung, ja Personalunion von Kirche, Schule, Hof und Verwaltung gibt dem Latein Ubiquität und Unentbehrlichkeit." Ein Dichter wie Jakob Balde, der durch die Forschungen von Herrn Stroh und seinen Schülern endlich wieder die Aufmerksamkeit erfährt, die diesem großartigen Genius neulateinischen Dichtens gebührt,(34) wirkte auch über die konfessionellen Grenzen hinaus. So ist etwa bezeugt, daß Balde im protestantischen Nürnberg hoch angesehen war; er wurde in Holland wie in Frankreich gelesen.(35) Wehrli hat aber auch darauf hingewiesen, daß Baldes Kunst ein inneres Ende der neulateinischen Dichtung anzeige. „Das Spiel mit Andeutungen und Reminiszenzen [...] bewegt sich gleichsam im goldenen Gefängnis der humanistischen Tradition; jede Aussage wird dadurch zum Zitat, zur Rolle, wird uneigentlich oder spielerisch."(36) Ich meine, daß diese Wertung nicht nur für die Dichtung Baldes, sondern weithin für die neulateinische Poeterei nach Balde gelten kann.(37)



Wolfgang Frühwald hat jüngst dargelegt,(38) daß noch in der Goethezeit kaum eine deutsche wissenschaftliche Sprachkultur vorhanden war. Er schreibt: „Noch beherrschte ein formelhaft-spätscholastisches Latein den Forschungsdiskurs, nur die Sprache der Poesie hatte seit Klopstock, Herder und ihren Schülern auch im Deutschen gewaltige Fortschritte gemacht." Und Frühwald weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß noch 1830 Jacob Grimm seine Göttinger Antrittsvorlesung auf Lateinisch halten mußte, und er sagt: „Diese Rede also hielt Grimm zu einer Zeit, in der das Lateinische als gemeinsame Wissenschaftssprache der europäischen Völker längst auf verlorenem Posten kämpfte."(39) In dieser Zeit hatte der Naturwissenschaftler Alexander von Humboldt bereits den Grundstock einer deutschen Wissenschaftssprache gelegt.



Man könnte nun ergänzend zu dieser zitierten Entwicklung an die unablässigen Klagen über die Latinitätsdressur erinnern, die den humanistischen Unterrichtsbetrieb von Melanchthon bis in die Gegenwart begleiten. Kein geringerer als Herder schreibt 1769: „Die Latinitätsdressur verdirbt in Briefen, Reden, Perioden, Chrien, Versen auf ewig: sie verdirbt Denk- und Schreibart: giebt nichts und nimmt vieles, Wahrheit, Lebhaftigkeit, Stärke, kurz Natur: setzt in keine gute, sondern in hundert üble Lagen, auf Lebenszeit, macht sachenlose Pedanten, gekräuselte Periodisten, elende Schulrhetoren, alberne Briefsteller, von denen Deutschland voll ist; ist Gift auf Lebenszeit."(40) Und Herder empfiehlt, wie einige moderne Didaktiker, Latein wie eine lebendige Sprache zu lernen. Er sagt aber auch gleichzeitig, daß selbst der Gelehrte besser Französisch als Latein können müsse. In der Abfolge des Spracherwerbs setzt er das Französische an die erste Stelle. Wir können also ganz nüchtern feststellen: Spätestens um die Mitte des vorigen Jahrhunderts hatte das Lateinische als Literatursprache ausgedient. Ebenso hatte es seine Rolle als Wissenschaftssprache verloren.(41) Umgekehrt hatte es in Humboldts Gymnasium einen überwältigenden Stellenwert und mußte sich dabei aber vielfach mit dem Argument eines formalen Bildungswertes verteidigen.(42)



Latein am Anfang einer neuen Zeit -- übertragen wir unser Thema auf die Gegenwart, dann kann man folgende Überlegungen anstellen:



1. Latein war über 2000 Jahre im Westen und in der Mitte Europas ein Kommunikationsmedium allerersten Ranges. Wer auch immer sich ernsthaft auf Literatur, Geschichte, Kunst, kurz auf die Kultur unseres alten Kontinents einläßt, kommt am Lateinischen nicht vorbei.



2. Wir erleben gegenwärtig nicht etwa, wie es in einem Beitrag im Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbands hieß, daß die Alte Welt aus der Erinnerung der Menschen zu verschwinden drohe.(43) Die Flut von Ausstellungsbesuchern, von Bildungsreisenden, von Fach- und Sachbüchern straft dieses Urteil Lügen.(44) Und wer sich einmal die Mühe oder das Vergnügen macht, auf der Suche nach Themen zur Antike durchs Internet zu surfen,(45) der wird entdecken, daß sowohl antike Texte wie auch Informationen über die Antike weltweit in einem Umfang zur Verfügung stehen wie noch zu keiner Zeit. Die Antike ist heute für jeden mit geringsten Mitteln nicht nur virtuell gegenwärtig, und auch all jene, die die unzähligen Web-Seiten zur Antike, ihrer Sprache und Kultur gestalten, wenden sich ja nicht von der Antike ab und verlieren sie aus der Erinnerung, sondern sie tun das, weil sie glauben, etwas Wichtiges mitteilen zu müssen.(46) Daß die Qualität dieser Mitteilungen höchst unterschiedlich ist, ist nicht das Thema. Entscheidend scheint mir, daß gerade die antike Welt in diesem neuen Medium eine ungebrochene Lebenskraft zeigt.



3. Wir erleben aber auch, nicht zuletzt im Kontext der modernen Kommunikationsformen, einen Sprachverfall ungeahnten Ausmaßes. Ein Primitiv-Englisch, durchaus dem Latein der Dunkelmänner vergleichbar (wohlmeinendere Zeitgenossen nennen es Broken English, kurz BE(47)) beherrscht nicht nur die E-Mails, sondern beherrscht auch die Diktion unserer Wirtschaft und des Sports, ja des gesamten öffentlichen Lebens. Staatsminister Zehetmair hat dieses Phänomen erst jüngst wieder an den Pranger gestellt und konstatiert: „Es ist einzig und allein die Vorspiegelung falscher Tatsachen: Dass nämlich das Denglisch-Kauderwelsch weltläufiger sei, moderner, leistungsorientierter."(48)



Ich glaube, daß sich allein schon aus diesen drei Punkten eine Begründung für ein Fach Latein in einer weiterführenden Schule ableiten läßt.



1. Latein hat eine eminent spracherzieherische Funktion. Der langjährige Leiter des Referats Alte Sprachen im Kultusministerium, Herr Hörmann, hat uns jungen Referendaren immer wieder eingeprägt: Jede Lateinstunde ist auch eine Deutschstunde. Er wollte damit ausdrücken, daß Hand in Hand mit dem Eindringen in die grammatischen Strukturen der lateinischen Sprache auch das muttersprachliche Verständnis zunimmt. Und das gilt auch für das Erlernen moderner Fremdsprachen. Trotz der Entwicklung moderner grammatischer Systeme wie Dependenz- oder Transformationsgrammatik hat sich gezeigt, daß das grammatische System der lateinischen Sprache mit einigen Modifikationen einen grundlegenden Erkenntniswert für das Erlernen moderner Fremdsprachen besitzt. Man könnte die Rolle des Lateinischen für den Spracherwerb mit der Rolle der Mathematik für die Natur und Kommunikationswissenschaften vergleichen. Wenn eine höhere Schule Schlüsselqualifikationen vermitteln soll, dann darf die Schlüsselqualifikation „Kenntnis der grammatischen Struktur der lateinischen Sprache als Modell einer sprachlichen Struktur" nicht fehlen. Und wie der Mathematikunterricht nicht erst nach drei, vier oder fünf Gymnasialjahren einsetzt, so muß logischerweise ein so verstandener Lateinunterricht möglichst bald einsetzen. Unverzichtbar ist dann aber auch der stete Brückenschlag zu den anderen Fremdsprachen, zunächst zum Englischen, dann zum Französischen oder aber auch zum Italienischen oder Spanischen, zu allererst aber zum Deutschen. Eine kontrastiv-komparative Sprachbetrachtung wird das Zentrum dieses Unterrichts sein müssen. Sein Ziel muß nicht zuletzt eine Sensibilisierung für die Schönheiten und Feinheiten der Muttersprache sein, die eben oft erst durch eine kontrastierende Distanz erkannt werden. Hellenismós, Latinitas, sprachliche Korrektheit war ein wichtiges Ziel des antiken Rhetorikunterrichts. Um die Heranwachsenden gegen die Sprachpanscher aus der Wirtschaft zu immunisieren, bedarf es des Einsatzes aller Formen von Spracherziehung.(49)



2. Die Präsenz der antiken Kultur und die Tatsache, daß Latein als Kommunikationsform Europa geprägt hat, ist stets und überall zu beobachten. Solche Beobachtungen beginnen in der eigenen Umgebung. Das von Herrn Waiblinger in München durchgeführte Projekt „Latein auf Stein" ist dafür ein überzeugendes Beispiel. Es gilt, die heute vorhandene fast grenzenlose Neugier gegenüber der Vergangenheit auch auf die sprachlichen Dokumente zu lenken.(50) Leider ist aber „Europa" eher ein Schlagwort der Lateinapologetik, die zur Kenntnis zu nehmen die Öffentlichkeit allmählich überdrüssig wird. „Europa" ist kaum Realität in den Lehrplänen. Zum Exempel: Der derzeit gültige Lateinlehrplan in Bayern nennt für die 12. und 13. Jahrgangsstufe, also für die letzte Phase des Lateinunterrichts, in dem nach meiner Meinung der Anspruch des Faches noch einmal in aller Deutlichkeit zum Ausdruck kommen sollte, für den Grundkurs 12 die Themen „Römisches Leben" (d.h. Briefe von Cicero, Seneca, Plinius, Texte zu rechtlichen Fragen) und „Satire, Spott und Ironie" (d. h. Roman und satirische Prosa [also wohl Petron], Horaz: Satiren, Catull und Martial), im Grundkurs 13 „Der Mensch in Staat und Gesellschaft, mit Texten aus Cicero (zweimal) und fakultativ Augustinus oder Thomas Morus. Im Leistungskurs 12 ein vergleichbarer Befund: Antike Staatslehre und römischer Staat (Cicero, Horaz, Vergil) sowie „Dichter und Dichtung in Rom (Petron oder Seneca, wiederum Horaz, Catull, Carmina Burana. Im Leistungskurs 13 Livius, Tacitus, Texte zur Sklaverei sowie Cicero und Seneca. Europa außerhalb der Antike findet demnach im Grundkurs, wenn überhaupt, fakultativ mit Morus' Utopia statt, im Leistungskurs mit den Carmina Burana. Nicht eineinhalb Jahrtausende Latinität, sondern kaum hundert Jahre Klassik und Nachklassik hielten die Lehrplanmacher für berücksichtigenswert. Das apologetische Schlagwort „Europa" entpuppt sich also als die große Mogelpackung dieses Lehrplans oder der verbandspolitischen Verlautbarungen. Nimmt es dann Wunder, wenn potentielle Abnehmer dieses Angebots sich getäuscht sehen, weil sie nicht das erhalten, was ihnen in vollmundigen Verbandsäußerungen vorgegaukelt wurde?(51) „Europa trägt den Stempel der Romidee" wurde stolz in einem Beitrag mit dem Titel „Latein und das nächste Millenium" verkündet.(52) Erlauben Sie mir die Frage: Wo in diesem Lehrplan finden Sie die Romidee in Europa?



Eben diese Frage aber führt zum dritten und letzten Punkt: Wie kann es gelingen, das verbreitete Interesse an der Vergangenheit für den Lateinunterricht fruchtbar zu machen. Staatsminister Zehetmair hat jüngst in einem Beitrag in der Antiken Welt Latein als Kulturfach bezeichnet;(53) das ist mehr als nur Sprach- und Literaturunterricht. Ein Kulturfach muß neugierig machen auf alles, was die römische Kultur und ihre Rezeption (Stichwort: Europa) umfaßt. Und neugierig werden kann man in der Tat, wenn man heute Latein mit einem perfekt gemachten Buch beginnen darf; ich nenne als Beispiel das Unterrichtswerk „Felix".(54) Die Erwartungshaltung, die so ein Buch hervorruft und auch erfüllt, scheint mir jedoch im gegenwärtigen Aufbau des Lateinunterrichts nicht durchgehalten zu werden. Früher sprach man, vielleicht etwas übertrieben, vom „Lektüreschock", der sich bei manchen Schülern beim Übergang von der Grammatik- zur Lektürephase einstelle; heute klagen Kollegen über frustrierte Lateinschüler in der Mittelstufe, und soeben hat Joachim Klowski festgestellt, daß sich die zukünftige Wirkmöglichkeit der Antike auf der Mittelstufe entscheidet.(55) Ich wage einmal, völlig ungeschützt durch empirische Erhebungen, die aber dringend anzustellen wären, folgende Behauptung: Die Mittelstufenlektüre vermag das in der Lehrbuchphase geweckte Interesse am Kulturfach Latein nicht aufrecht zu erhalten. Eine wochenlang sich hinschleppende Auseinandersetzung zwischen Caesar und Ariovist kann tödlich sein für die weitere Motivation. Ich habe einmal mit Studenten auf einer Exkursion in der Schweiz sozusagen „vor Ort" den Auswanderungsplan der Helvetier diskutiert: Im Westen liegt der massige Riegel des Jura, im Osten und Südosten der Genfer See und die Berner Alpen, im Südwesten der auch heute noch nur durch kühnste Straßenbaukonstruktionen zu bewältigende Rhônedurchbruch, und im Norden standen die Germanen. Wenn überhaupt, blieb nur ein Ausweichen Richtung Annecy und damit in die römische Provincia. Die einhellige Reaktion der Studenten: „Von dieser geopolitischen Situation hatten wir bei der Caesarlektüre nichts gehört, wir wußten eigentlich nicht, worum es ging." Offensichtlich gibt es in der Mittelstufe eine Durststrecke, die für viele Schüler die Autoren Caesar, Sallust, aber auch Livius einfach als langweilig erscheinen läßt.(56) Und das ist tödlich für das Fach. Die jetzt anstehende Revision der Lehrpläne böte die Gelegenheit zur Veränderung. Mein Vorschlag ist: Präsentation sorgfältig ausgewählter Texte der europäischen Latinität in einem Unterrichtswerk, das sich, wie die Unterrichtswerke für die Grammatikphase zeigen, auch als Vermittler der antiken, ja europäischen Kultur versteht. Solche kluge Textauswahlen lagen bereits in den 60er Jahren vor. Ich erinnere an das von Ludwig Voit und Hans Bengl gestaltete „Römische Erbe", zu dem noch der großartige kommentierte Tafelband von Heinz Kähler trat.(57) Diese Auswahl endet zeitlich mit Boethius. Für Mittelalter und Frühe Neuzeit trat ergänzend dazu das Lesebuch von Alfons Fitzek, „Geistige Grundlagen Europas" mit Texten bis Leibniz und mit einigen modernen lateinischen Urkunden.(58) Wenn man dagegen jenes kleine Häuflein von Autoren stellt, das der derzeit gültige Lehrplan für die Oberstufe vorsieht, dann wird die nicht nur sprachliche, sondern auch inhaltliche Verarmung eines Kulturfachs deutlich.



Allerdings müßte für ein Fach, das sich konsequent als Kulturfach europäischer Dimension, nicht nur als Sprach- und Literaturfach für eine immer geringer werdende Pröbchenlektüre von immer weniger, teilweise gar nicht so attraktiver Autoren versteht, auch die Ausbildung in Hinblick auf ein Lehramtsexamen modifiziert werden. Das Lehramtsstudium der Alten Sprachen wird zunehmend eingeengt durch den hypertrophen Anspruch der Erziehungswissenschaften. Elternvertreter und Politiker, die dem Irrglauben anhängen, ein kompetenter Fachlehrer und ein erfolgreicher Fachunterricht ergebe sich aus dem Besuch pädagogischer Vorlesungen, haben es zu Wege gebracht, den erziehungswissenschaftlichen Fächern im Lehramtsstudiengang und in den Lehramtsprüfungen immer größeren Raum zu gewähren. Die eigentlich wissenschaftlichen Fächer sind zu Kürzungen aufgerufen. In dieser Situation -- Revision der gültigen Lehrpläne, Einengung des Fachstudiums durch bildungspolitische Entscheidungen - ist die Notwendigkeit gegeben, auch die Studieninhalte der Lehramtsstudiengänge auf den Prüfstand zu stellen. Schon vor längerer Zeit wurden von Vertretern unserer Universität Vorschläge zur Reduzierung eines überdimensionierten Stilübungsbetriebs unternommen, Vorschläge, die nicht nur auf den Widerstand einiger Fachkollegen, sondern auch einiger altgedienter Schulmänner stießen. Die jüngsten Entwicklungen und Diskussionen geben aber den beharrenden Kräften kaum noch Recht. Wenn sich Latein als ein Schlüsselfach für den Zugang zur europäischen Kultur versteht, dann müssen seine zukünftigen Fachvertreter schon während ihres Studiums dieses Ziel im Auge haben. Konkret für Latein heißt das: Exemplarische, aber obligatorische Studien in der mittelalterlichen und neuzeitlichen Latinität, eine Berücksichtigung der Alten Geschichte im gleichen Umfang wie der der Archäologie, eine Intensivierung der Übersetzungsfähigkeit aus der Fremdsprache, die Ausrichtung, aber auch Beschränkung der aktiven Sprachkompetenz auf das Verfassen lateinischer Texte, wie sie in der Schule benötigt werden(59). Latein am Anfang dieser unserer neuen Zeit muß die Antike nicht neu entdecken, es muß nicht Cicero und Horaz imitieren, sondern es sollte als Schulfach das zweifelsohne verbreitete Interesse an der Vergangenheit als Chance zu einer vertieften Begegnung mit der lateinischen Welt begreifen. Als Universitätsfach muß es sich stärker den Nachbardisziplinen öffnen, der Germanistik, der Romanistik, der Sprachwissenschaft, der Alten Geschichte und der Archäologie; das Fach bedarf dringend der Vernetzung. Der Vorsitzende der bayerischen Rektorenkonferenz, Gotthard Jasper, schrieb jüngst: „Vernetzung ist in zunehmendem Maße nicht nur in der Forschung, wo an den Grenzflächen zwischen den Disziplinen die Musik spielt, sondern eben auch in der Lehre von entscheidender Bedeutung. Tatsache ist, dass unsere Studierenden in der Regel nicht nur ein Fach, sondern mehrere Fächer zu studieren haben und dies gerade angesichts der disziplinübergreifenden Anforderungen des beruflichen Alltags auch notwendig ist."(60)

Die zum 1. Januar 2001, also just zu Beginn des neuen Jahrtausends, vorgesehene Neugliederung unserer Fakultäten gibt mit der Einführung der Department-Struktur zumindest einen organisatorischen Anreiz, die Vernetzung des Faches Latein mit Sprachwissenschaft, Mittellatein und Romanistik zu intensivieren. Es bleibt zu hoffen, daß der organisatorischen Vernetzung auch die inhaltliche folgt. Latein hat in der geschilderten Konzeption als einem Schlüsselfach zur europäischen Kultur eine gute Chance. An uns allen liegt es, nicht diese Chance durch ängstliches Beharren und kleinmütige Korrekturen zu vertun.

Videant consules, ne quid Latinitas detrimenti capiat. Immo vivat, crescat, floreat.

In den folgenden Anmerkungen werden Literaturhinweise zu den einzelnen angesprochenen Themenbereichen gegeben. Zur aktuellen Diskussion um den Lateinunterricht wurden besonders jüngste Äußerungen berücksichtigt. Die Druckfassung der Vorlesung gibt Gelegenheit, auch einige höchst willkommene spontane Reaktionen von Kolleginnen und Kollegen mit zu bedenken.

1. Gekürzt zitiert nach Trillitzsch, W.: Der deutsche Renaissancehumanismus. Abriß und Auswahl. Frankfurt a.M. 1981, 149f. Der lateinische Text findet sich bei Wattenbach, W.: Peter Luder, der erste humanistische Lehrer in Heidelberg. Archiv für die Geschichte des Oberrheins (ZGO) 22, 1869, 33-127; vgl. auch ZGO 27, 1875, 95-99. Zu vergleichen ist auch Barner, W.: Studia toto amplectanda pectore. Zu Peter Luders Programmrede vom Jahre 1456. Res Publica Guelferbytana. Wolfenbüttler Beiträge zur Renaissance- und Barockforschung. Festschrift für Paul Raabe. Chloe, Beihefte zum Daphnis 6. Amsterdam 1987, 225-251. Weitere Literatur zu Peter Luder unter http://www.klassphil.uni-muenchen.de/~gruber/biblsyst/autoren/luder.html.

2. Gekürzt zitiert nach Trillitzsch (wie vorige Anm.), 151.

3. Pfeiffer, R.: Küchenlatein, Philologus 86, 1931, 455-459 = Ders.: Ausgewählte Schriften. Aufsätze und Vorträge zur griechischen Dichtung und zum Humanismus, hrsg. von W. Bühler, München 1960, 183-187. Vgl. auch Burke, P.: Küchenlatein. Sprache und Umgangssprache in der frühen Neuzeit, aus dem Englischen von R. Cackett. Berlin 1989 (zuerst Cambridge 1987).

4. Literatur zu den Dunkelmännerbriefen findet sich unter http://www.klassphil.uni-muenchen.de/~gruber/biblsyst/autoren/eov.html.

5. Literaturhinweise zur Apollo-Ode bei Gruber, J.: Imitation und Distanzierung -- Celtis' Lebensentwurf und Horaz. In: Auhagen, U. u. a. (Hrsg.): Horaz und Celtis. NeoLatina 1. Tübingen 2000, 48 Anm. 31. Dazu kommt Jaumann, H.: Das dreistellige Translatio-Schema und einige Schwierigkeiten mit der Renaissance in Deutschland. Konrad Celtis' Ode ad Apollinem (1486). In: Vogt-Spira, G., Rommel, B.: Rezeption und Identität. Die kulturelle Auseinandersetzung Roms mit Griechenland als europäisches Paradigma. Stuttgart 1999, 335-349. Weitere Literatur zu Celtis unter http://www.klassphil.uni-muenchen.de/~gruber/biblsyst/autoren/celtis.html.

6. Eine vorläufige Ausgabe mit Text, Übersetzung und Erläuterungen findet sich unter http://www.klassphil.uni-muenchen.de/~gruber/texte/celtis/ingolstadt/index.html.

7. Vgl. dazu besonders die beiden Beiträge von Dieter Wuttke „Renaissance-Humanismus und Naturwissenschaft in Deutschland" und „Humanismus und Entdeckungsgeschichte 1493-1534" in: Wuttke, D.: Dazwischen. Kulturwissenschaft auf Warburgs Spuren. Baden-Baden 1996, 455-481 und 483-537.

8. Rupprich, H.: Vom späten Mittelalter bis zum Barock. 1. Teil: Das ausgehende Mittelalter, Humanismus und Renaissance 1370-1520. Geschichte der deutschen Literatur IV/1, hrsg. von H. de Boor und R. Newald. München 2. Aufl. 1994, 627.

9. Rupprich (wie vorige Anm.), 468.

10. Es ist hier nicht der Ort, die verschiedenen Positionen zu würdigen. Je nachdem, ob man an die linguistische Entwicklung des Lateinischen einschließlich der Ausdifferenzierung von „Hochlatein" und Vulgärlatein oder an Latein als Medium literarischer Aussage denkt, werden die Antworten verschieden ausfallen. Auch Latein als Sprache der Wissenschaft und als internationales Kommunikationsmedium ist dabei zu berücksichtigen. Verschiedene Positionen vertreten etwa J. Ijsewijn, Mittelalterliches Latein und Humanistenlatein, in: Buck, A. (Hrsg.): Die Rezeption der Antike. Zum Problem der Kontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance. Hamburg 1981, 71-83 und W. Stroh, Lob des Lateins. Mitteilungen für Lehrerinnen und Lehrer der Alten Sprachen (DAV Baden-Württemberg) 26, H. 2, 1998, 3-13, auch unter http://www.klassphil.uni-muenchen.de/~stroh/lobdeslat.htm.

11. Keck, I.: Die Noriberga illustrata des Helius Eobanus Hessus. Kommentar. Frankfurt a. M. 1999.

12. Vgl. die Rezension von N. Holzberg, Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 129, 2000, 118-121.

13. Reuchlin, Johannes: La Kabbale (De arte cabalistica). Introduction et traduction par F. Secret. Études et textes de mystique juive. Paris 1973; On the art of Kabbalah, übers. von M. und S. Goodman, New York 1983; L'arte cabbalistica, übers. von G. Busi, Florenz 1995. Werner Beierwaltes machte mich freundlicherweise auf die geplante kritische Reuchlin-Gesamtausgabe aufmerksam. Die Anschriften der Editoren finden sich auf der Web-Seite der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland e.V. unter http://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/agphe/Addedt.html.

14. Literatur zur Germania-Rezeption unter http://www.klassphil.uni-muenchen.de/~gruber/biblsyst/germania.html.

15. Vgl. den Überblick von R. Düchting, LexMA II, 1983, 212f.

16. Dazu kommt das hexametrische Gedicht De situ et moribus Germaniae (ed. K. Adel, Conradi Celtis quae Vindobonae prelo subicienda curavit opuscula, Leipzig 1966, 55-64). Es ist behandelt von G. M. Müller, Die Germania des Konrad Celtis. Studien und Edition. Diss. München 1999.

17. Vgl. z. B. Wehrli (wie Anm.31), 139ff. = 146ff.

18. Vgl. König, H.-J.: Von den neu gefundenen Inseln, Regionen und Menschen. Zu den Briefen von Christoph Columbus, Amerigo Vespucci und Hernán Cortés. In: Wolff, H. (Hrsg.): America. Das frühe Bild der Neuen Welt. München 1992, 103-108. Dort S. 104 zu den lateinischen Übersetzungen des Columbus-Briefes, S. 106 zum Mundus Novus des Amerigo Vespucci.

19. Vgl. Wuttke (wie Anm. 7), 521 und 509.

20. Übersetzung in Anlehnung an Kühlmann, W. u. a. (Hrsg.): Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1997, 59ff.

21. Füssel, St.: Ein wohlverdientes Lob der Buchdruckerkunst. Pirckheimer-Jahrbuch 11, 1996, 7-14, Übersetzung S. 13.

22. Füssel (wie vorige Anm.), 9.

23. Zitiert nach Paulsen, F.: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht. 2 Bde. 3. Aufl. Leipzig 1919, I, 202.

24. Die großen geographischen und astronomischen Entdeckung schufen ein neues Bild von der Welt, das sich erheblich von dem der Antike und des Mittelalters unterschied. Bereits 1528 wies der Portugiese João de Castro darauf hin, daß die großen Erfahrungen der protugiesischen Seefahrer die Meinungen der Antike gestürzt hätten. 30 Jahre später berichtete Garcia de Orta von den Heilmitteln, die er in Indien gefunden habe und stellt bei dieser Gelegenheit fest: „Heute lernen wir an einem Tag von den Portugiesen mehr als man in hundert Jahren wissen konnte durch die Römer." Zitiert nach Hooykaas, R.: Von der „Physica" zur Physik. In: Schmitz, R., Krafft, F. (Hrsg.): humanismus und naturwissenschaften. Beiträge zur Humanismusforschung 6. Boppard 1980, 21.

25. Nach Paulsen (wie Anm. 23), I 202.

26. Paulsen (wie Anm. 23), I 194.

27. Zitiert nach Paulsen (wie Anm. 23), I 204ff..

28. Immer noch lesenswert ist die Dokumentation von Paulsen (wie Anm. 23), dazu H. J. Apel, St. Bittner, Humanistische Schulbildung 1890-1945. Anspruch und Wirklichkeit der altertumskundlichen Fächer. Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte Bd. 55. Köln, Weimar, Wien 1994 (Rez. J. Gruber, Forschung und Lehre 1995, 399-400).

29. Zitiert nach Paulsen (wie Anm. 23), I 205.

30. Zitiert nach Paulsen (wie Anm. 23), I 204.

31. Wehrli, M.: Latein und Deutsch in der Barockliteratur, Akten des V. Internationalen Germanistenkongresses Cambridge 1975. Heft 1, Hrsg. von L. Forster und H.-G. Roloff (Jahrbuch für internationale Germanistik. Reihe A. Kongreßberichte Bd. 2). Bern. u. a. 1976, 134-149 = Ders.: Humanismus und Barock. hrsg. v. F. Wagner und W. Maaz. Hildesheim/Zürich 1993, 79-96. Die Zitate 139f. = 194f.

32. Dagegen stellt Burke (wie Anm.3), 32 die These: „Die Protestanten, die sich der Austreibung des Lateins aus der Kirche verschrieben hatten, waren häufig bessere Lateiner als die Katholiken, die für seine Beibehaltung eintraten."

33. Zitiert nach Wehrli (wie Anm.31), 145f. = 200f.

34. Eine aktualisierte Gesamtbibliographie zu Balde findet sich unter http://www.klassphil.uni-muenchen.de/~stroh/balde-bib.htm

35. Wehrli (wie Anm.31), 145 = 200.

36. Wehrli (wie Anm.31), 145f. = 200f.

37. Ähnlich argumentiert Burke (wie Anm.3), 32: „Der Niedergang des Lateins ging nicht hauptsächlich auf die Gegner der klassischen Antike zurück, sondern auf ihre Anhänger, die Humanisten, die das Latein durch ihr Beharren auf klassischen Standards von einer lebendigen in eine „tote" Sprache verwandelten."

38. Frühwald, W.: Deutsch als Sprache der Wissenschaft. Aviso 3, 2000, 10-15.

39. Ranke bemerkte bei der Vorbereitung seiner lateinischen Antrittsvorlesung 1836: „Leider wird immer noch eine lateinische Dissertation und Vorlesung verlangt, wozu ich wenig Lust verspüre" (zitiert nach Burke, wie Anm. 3, 41).

40. Zitiert nach Paulsen (vgl. Anm. 23), 2. Aufl. 1896, II 194.

41. Zahlreiche Hinweise zur Entwicklung an den europäischen Universitäten bei Burke (wie Anm. 3), 35ff.

42. Mit dieser Begründung war allerdings schon vor 100 Jahren Friedrich Paulsen (vgl. Anm. 23) in seiner Geschichte des gelehrten Unterrichts scharf ins Gericht gegangen ( 2. Aufl. II 644 ff.).

43.   Maier, F.: Die Antike am Scheideweg. Zur Zukunft der Klassischen Sprachen in der Schule. Forum Classicum 42, 1999, 131-133.

44. Darauf wurde auch von anderen Kritikern dieses umstrittenen Beitrags hingewiesen. Vgl. D. Gaul, Forum Classicum 42, 1999, 218; R. Nickel, Forum Classicum 43, 2000, 16.

45. Den einfachsten Zugang erhält man über die von Ulrich Schmitzer gestaltete Homepage des Erlanger Instituts für Klassische Philologie (Latein): http://www.phil.uni-erlangen.de/~p2latein/kirke/kirkerah.html.

46. Es sollte dabei nicht übersehen werden, daß gerade auch Nicht-Altphilologen außerordentlich ansprechende und vielseitige Beiträge zur virtuellen Verfügbarkeit der Antike leisten. Ich nenne als Beispiel die Bibliotheca Augustana (http://www.fh-augsburg.de/~harsch/augusta.html).

47. Frühwald (wie Anm. 38), 10.

48. Zehetmair, H.: Editorial. Aviso 2, 2000, 3.

49. Klaus Westphalen sah in seiner Kieler Abschiedsvorlesung von 1996 die Verantwortung gegenüber der Sprache als einen Aspekt einer zeitgemäßen Humanität: „Die Verantwortung gegenüber der Sprache gebietet, der Sprachverschluderung in den Medien und im täglichen Gebrauch entschieden entgegenzutreten." Die Vorlesung mit dem Titel „Humanitas implantanda. Eine Interpretation des Emblems der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Kiel" findet sich bei Kurzdörfer, K. (Hrsg.): Bildung und Transzendenz. Norderstedt/Leipzig 1999, 15-32.

50. So auch Nickel (wie Anm. 44), 16.

51. Inzwischen scheint jedoch das Postulat auch die für die Lehrpläne in Bayern verantwortliche Institution erreicht zu haben. Es stimmt hoffnungsfroh, wenn der Leiter des Staatsinstituts für Schulpädagogik und Bildungspolitik, Peter Meinel, im Jahresbericht 1999 des Instituts unter dem Titel „Neue Herausforderungen für die Lehrplanarbeit" u. a. schreibt (S. 89): „Die Schüler müssen schon heute mehr Informationen über Europa erhalten. Das betrifft in erster Linie Fächer wie Geschichte, Erdkunde und Sozialkunde." Es betrifft aber sicher auch die sprachlichen Fächer. Im Zusammenhang mit der im gleichen Beitrag angesprochenen Kanon-Diskussion wäre gerade auch für das Lateinische über einen Kanon lateinischer nicht-antiker Texte nachzudenken.

52. Eyrainer, J.: Latein und das nächste Millenium. Forum Classicum 42, 1999, 187-188.

53. Zehetmair, H.: Latein als Kulturfach begreifen. Antike Welt 31, 2000, 324-327.

54. Herausgegeben von Klaus Westphalen u. a., C. C. Buchners Verlag Bamberg.

55. Klowski, J.: Die europäische Kultur am Scheideweg. Forum Classicum 43, 2000, 94-96.

56. Zwei beliebig herausgegriffene Zeugnisse: In einem Beitrag über den Lateinunterricht in den Niederlanden (Forum Classicum 42, 1999, 244ff.) findet sich die nachdenkenswerte Formulierung „Nachdem wir uns jahrelang mit Caesar, Livius und anderen Langweilern herumgeschlagen hatten [...]". Die Autorin Marjoleine de Vos spricht dann von dem beglückenden Erlebnis der Vergil-Lektüre. Das von F. Maier erneut vorgetragene Plädoyer für eine Caesarlektüre auf der Mittelstufe (Caesar -- ein europäisches Bildungsgut. Zu Sinn und Unsinn des lateinischen Lektüreunterrichts, Forum Classicum 43, 2000, 3-8) wird skeptische diskutiert von J. Klowski (wie Anm. 55), 96. Ob allerdings ein Terenz das Interesse der Schüler eher zu erwecken versteht, mag ebenso bezweifelt werden.

57. Bayerischer Schulbuch-Verlag München, 3. Aufl. 1961.

58. Verlag Moritz Diesterweg, Frankfurt a. M. 4. Aufl. 1968. Zu nennen sind ferner das von W. Stosch u. a. herausgegebene „Lateinische Lesebuch" Verlag Moritz Diesterweg, Frankfurt a. M. 2. Aufl. 1972, für das Mittelalter der Band von H. Kusch, Einführung in das lateinische Mittelalter, Band I: Dichtung. Berlin (Ost) 1957, die Reclam-Bände von D. Walz „Lateinische Prosa des Mittelalters" (Nr. 9362), P. Klopsch „Lateinische Lyrik des Mittelalters" (Nr. 8088), H. C. Schnur „Lateinische Gedichte deutscher Humanisten" (Nr. 8739-45), C. Fischer, Summa Poetica, Griechische und lateinische Lyrik von der christlichen Antike bis zum Humanismus, München 1967, B. Kytzler, Roma aeterna, Lateinische und griechische Romdichtung von der Antike bis zur Gegenwart, Zürich/München 1972, Kühlmann, W. u. a. (Hrsg.): Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1997.

59. Gerade dieses Postulat wird oft mißverstanden als ein leichtfertiges Aufgeben einer grundlegenden Voraussetzung des philologischen Studiums. Dabei werden folgende Fakten zu wenig berücksichtigt:

1. Im langjährigen Durchschnitt der bayerischen Examensnoten sind die Übersetzungen in die Fremdsprache deutlich besser ausgefallen als die aus der Fremdsprache. Offensichtlich läßt sich eine examenstaugliche aktive Sprachkompetenz mit Hilfsmitteln wie „Menge" und der Phraseologie von Otto Schönberger mehr oder weniger mechanisch einüben, ohne daß die dabei erworbenen Fähigkeiten in gleicher Weise dem Verständnis lateinischer Texte förderlich wären. Vermutlich liegen zwei verschiedene Formen des Spracherwerbs vor, deren Divergenzen und Konvergenzen zu untersuchen ein dringendes Desiderat der Fachdidaktik ist.

2. Diese derzeit eingeübte aktive Sprachkompetenz gibt, wie eigene Erfahrungen mit Lehramtskandidaten zeigten, noch lange nicht die Gewähr für das Erstellen in sich schlüssiger und für Schüler verständlicher korrekter lateinischer Texte.

3. Die von den Studienordnungen geforderte und von den Studierenden aufgewendete Zeit für das Einüben examenstauglicher, aber nicht unbedingt unterrichtstauglicher aktiver Sprachkompetenz fehlt für die dringend erforderliche Abrundung und Vertiefung des philologischen Studiums im oben beschriebenen Sinne. Da aber die Studienzeiten eher reduziert als ausgeweitet werden sollten, ist eine Neugewichtung der Studieninhalte das Gebot der Stunde.

60. Jasper, G.: Herausforderungen für die Hochschulen. Politische Studien. Sonderheft 2, 2000, 44-47, Zitat S. 45f.


Die Diskussion wird weitergeführt mit dem wichtigen Beitrag von Josef Kraus, Lateinunterricht in Zeiten des Internets, Antike Welt 31, 2000, 433-438.