Ph. Borgeaud: La Mère des dieux. De Cybèle à la Vierge Marie. Lonrai 1996.

Die Gestalt der „Großen Mutter", in den Regionen des Vorderen Orients in den vielfältigen Ausprägungen der „Göttermutter" verbreitet, und die Frage, ob und wie die in der Spätantike einsetzende Marienverehrung von ihr beeinflußt oder sogar geprägt ist, hat die Forschung seit langem beschäftigt und naturgemäß verschiedene Antworten gefunden. Insbesondere das Problem einer Kontinuität von der phrygischen Kybele, deren Kult im Imperium Romanum gerade auch im Westen eine große Anhängerschaft hatte, zur Verehrung der christlichen Gottesmutter, wurde kontrovers diskutiert. Der Genfer Religionshistoriker Borgeaud (im folgenden: B.) lehnt in seiner 1995 abgeschlossenen, reich mit Literatur dokumentierten Untersuchung zunächst knapp zwei konträre Positionen für die Beurteilung dieses Problems ab: Nach Bachofens Vorstellungen über das Mutterrecht (1861) ist Kybele ein letzter Ausläufer der alten, universellen „Großen Mutter". Name und Darstellungen der Kybele finden sich zuerst in Anatolien, sodaß sie als unmittelbare Nachfolgerin der neolithischen Gottheit von Çatal Hüyük angesehen werden könne. Nicht beachtet wird dabei nach B., daß die Göttin von Çatal Hüyük und das Auftreten der Kybele im 7. Jh. durch einen Zeitraum von mehr als 5000 Jahren und mehrere große Zivilisationen getrennt sind (9). Die Vorstellung von der Gottesmutter Maria als Erbin der großen antiken Göttinnen beruht auf einer einfachen übertragung der Symbole und Funktionen. Maria füllt dabei den Raum aus, der von Isis und Kybele verlassen wurde. Diese These ist zuletzt von M. P. Carroll, The Cult of the Virgin Mary, Psychological Origins, Princeton 1986, in Verbindung mit gewagten psychologischen Konstruktionen vertreten worden und gab den Anstoß für die vorliegende Untersuchung, die sich besonders mit dem Verhältnis der Göttin Kybele zu ihren Priestern befaßt. Als Ergebnis findet B. nicht die Vorstellung eines direkten Erbes in der christlichen Marienverehrung, sondern eine Begegnung zweier vollkommen verschiedenen Gestalten. Erst unter dem Einfluß des Christentums wandeln sich vom 2. nachchristlichen Jh. an Riten und Mythen des Kybele-Kults, während umgekehrt die nicht nur christliche Diskussion um die Keuschheit angesichts der Praktiken der Galli an Deutlichkeit zunahm.

Im ersten Kapitel, „Une Mère itinérante", bespricht B. anhand der Quellen die Verbreitung der Kybele-Verehrung, deren Namen zuerst im 6. Jh. an einem phrygischen Heiligtum erscheint, erörtert die frühen Beziehungen zwischen Griechenland (Pelops) und dem Reich des Midas und verfolgt die Geschichte Phrygiens bis zur Herrschaft der Perser. Phrygische Kulte erhielten sich bis ins 4. nachchristliche Jh. Zeugnisse sind die Monumente in der Nähe von Afyon, für die teilweise griechischer Einfluß wahrscheinlich gemacht wurde. Die Wechselbeziehungen Phrygiens zwischen dem Vorderen Orient und Ägypten einerseits und Griechenland andererseits wuchsen in der Regierungszeit der Mermnaden, als die Griechen in Sardes einer der ältesten Formen der Muttergottheit, Kubaba, begegneten. Der Name Kybele wird dann verstanden als Mischform zwischen dem phrygischen Adjektiv Kubileia (sc. matar) und dem Eigennamen Kybebe (25). Von Anatolien aus verbreitete sich der Kult einer anonymen Muttergottheit über Griechenland und Süditalien bis nach Marseille.

Das zweite Kapitel ist dem Metroon auf der Agora in Athen gewidmet, wo am Ende des 5. Jh. Phidias oder eher sein Schüler Agorakritos eine Kultstatue für das mit dem Bouleuterion verbundene Heiligtum schuf. Das läßt an ein Wiederaufleben des Kultes denken, worauf auch literarische Zeugnisse (Euripides, Helena) hinweisen. Attische Inschriften des 3. Jh. deuten auf die Verehrung zweier Muttergottheiten, einer einheimischen und einer fremden, asiatischen.

Das Kapitel „L'invention d'une mythologie" bespricht die Anfänge des Attis-Mythos, den B. mit E. Meyer auf die aus Herodot bekannte Atys-Geschichte zurückführt (57). Attis, ursprünglich Bezeichnung für einen Priester der Muttergottheit mit bestimmten Funktionen, erscheint dann auch als Liebhaber der Göttin und wird erst in der Kaiserzeit selbst Kultobjekt. Als konkrete Person findet sich Attis u.a. in Catulls carmen 63, während die romanhafte Ausgestaltung des Attis-Mythos, nicht ohne Bezug zu hettitischen Sukzessionsmythen, in verschiedenen Versionen seit Augusteischer Zeit (Diodor) vorliegt. Von einer Auferstehung des Attis wissen die ältesten Quellen nichts. Daher dürfte dieses Motiv des Mythos erst unter christlichem Einfluß im 3. und 4. Jh., ausgehend von Pessinunt, entwickelt worden sein.

Ein weiteres Kapitel ist dem Auftreten der Göttermutter in Rom gewidmet, wo sie unter dem Titel Magna Mater Idaea Deum seit 204 verehrt wird. Bei allen Varianten der literarischen Überlieferung (Livius, Didodor, Ovid) bleibt doch stets die Konstante, daß Aristokratie und Volk gemeinsam die Gottheit in die Stadt aufnehmen, auch wenn römische Bürger vom Kult ausgeschlossen bleiben.

Chronologisch zurückgreifend fragt das nächste Kapitel nach dem Ursprung der Magna Mater. Diskutiert wird neben dem griechischen Charakter des Kultes besonders sein Ursprungsort Pessinus, die Bedeutung der Stadt als Kultort und Handelszentrum, das Verhältnis zu den Galatern in Anatolien und v.a. die Frage, warum Rom in der Not des zweiten Punischen Kriegs sich ausgerechnet an die Gottheit von Pessinus wandte. B. kann eine ganze Reihe von Gründen aus dem politischen Verhältnis Roms zu den Attaliden (und damit auch zu Troja) wie auch zu den Kelten anführen, die die Aufmerksamkeit der Römer auf dieses anatolische Kultzentrum richten mußten, nicht zuletzt aber die Tatsache, daß die Sibyllinischen Bücher befragt wurden propter crebrius eo anno de caelo lapidatum (Liv. 29, 10, 4) und in Pessinus ein Meteorstein verehrt wurde.

Die Entwicklung des Attis-Kultes in der Kaiserzeit wird ausgehend von den letzten Zeugnissen dargestellt. Im Kalender von 354 werden im März eine Reihe von Feiertagen erwähnt, die sich mit Hilfe weiterer literarischer Zeugnisse zu einer entwickelten Liturgie zusammenfügen lassen. Jetzt erst finden sich all die Elemente, die den Kult als Konkurrenz zum Christentum erscheinen lassen: Unbefleckte Empfängnis, Tod und Auferstehung des Attis, Taufe der Gläubigen in der Zeremonie des Tauroboliums. Diese Bluttaufe wird als Ersatzhandlung für die Kastration der Galli verstanden; in Kreisen der stadtrömischen Aristokratie erfreute sie sich, wie die Inschriften zeigen, im 4. Jh. großer Beliebtheit.

Das Schlußkapitel zeigt die Übereinstimmungen wie auch die Verschiedenheiten zur Vita Mariens, die v.a. durch das Protoevangelium des Jakobus im 2. Jh. geprägt wurde. Es ist eine Zeit, in der die Frage nach sexueller Enthaltsamkeit nicht nur in religiösen, sondern auch in philosophischen Kreisen diskutiert wurde. Maria wird, wie die christliche Kirche insgesamt, aber auch verstanden als Braut Christi, und so versteht sich auch der einzelne Gläubige: „ce n'est plus vers la Mère que se dirige le désir du mystique chrétien, mais bien vers le Fils, conçu comme amant d'une âme féminisée" (181). Darin sieht B. die entscheidende Umkehr gegenüber dem Kybele-Attis-Mythos. Somit ist ein sehr differenziertes Bild dieses religionsgeschichtlich so bemerkenswerten Kultes entstanden, der die Forschung auch weiterhin beschäftigen wird. Hingewiesen sei auf das zum Zeitpunkt dieser Rezension angekündigte Werk von Lynn E. Roller, In Search of God the Mother, The Cult of Anatolian Cybele, University of California Press 1999.