Daedalus und Icarus und Ovid

Ein Beitrag zum Spiel mit einem lateinischen Klassiker



In „Die Alten Sprachen im Unterricht", Mitteilungsblatt der Landesverbände Bayern und Thüringen im Deutschen Altphilologenverband, XLVI, 3, 1999, 12-21 hat Dieter Friedel unter dem Titel „Ovid: Daedalus und (?) Ikarus" eine Interpretation von Ov. met. 8, 182ff. vorgelegt, die Anlaß zu einigen grundsätzlichen Überlegungen gibt.

F. stellt einleitend seit der frühgriechischen Lyrik das „un-eigentliche Sprechen" fest. „Der Dichter sagt nicht das, was er eigentlich meint, und er meint eigentlich nicht das, was er sagt" (12). Mit Beispielen aus Archilochos, Alkaios, Döblin und Thomas Mann untermauert F. diese Aussage. Auf diese Beispiele, die ihre je eigene Problematik haben, sei hier nicht näher eingegangen, sondern die Diskussion allein auf die Ovid-Stelle beschränkt.

Nach allgemeinen Ausführungen über die Exklusivität der alexandrinisch-kallimacheischen Dichtung und den „leidenschaftlichen Kallimacheer" Ovid urteilt F. (13): „Es ist das große Verdienst Niklas Holzbergs (Ovid. Dichter und Werk, 2. Aufl. München 1998, S. 123ff.), [...] nachgewiesen zu haben, dass dies auch noch für den Dichter der Metamorphosen gilt." Schon in dieser Bewertung irrt F., denn bereits im RE-Artikel von Walther Kraus (Ovidius Naso, RE XVIII [erschienen 1942]), ist auf Sp. 1937 in Hinblick auf die Metamorphosendichtung zu lesen: „Geschmack und Selbstgefühl bewahrten ihn (sc. Ovid) davor, seine Wesensart aufzugeben und sich unter das imitatorum servum pecus zu mischen, das nun im Gefolge der Aeneis große Epen schrieb. Er blieb der alexandrinischen Richtung treu, die zuletzt Properz als der römische Kallimachos dem Geiste der Zeit gemäß zu erneuern gesucht hatte." Kraus selbst verweist Sp. 1941 seinerseits auf Arbeiten von L. Castiglioni aus dem Anfang dieses Jahrhunderts. Auch die Beiträge zu den Metamorphosen in dem Sammelband zu Ovid (WdF 92, 1982) thematisieren die Beziehung zu Kallimachos. Nur unter Ignorierung eines Jahrhunderts Ovidforschung konnte also F. zu oben erwähntem Urteil über das genannte Ovid-Buch kommen.

In Anschluß an Holzberg bespricht F. kurz das Metamorphosenproömium in der Textform (1,2) nam vos mutastis et illa und erklärt apodiktisch „am Ende des zweiten Verses ist mit Sicherheit „illa" (coepta) und nicht „illas" zu lesen" (13). Wie F. zu dieser Sicherheit kommt, sagt er leider nicht. Daher sei kurz auf das Problem eingegangen. Drei Lösungen werden in der Forschung vorgeschlagen:

1. Man behält die einhellige Überlieferung illas bei. Denn Tatsache ist, daß illa lediglich eine singuläre Korrektur aus dem Erfordensis Amplonianus Prior (saec. XII-XIII) darstellt. Insofern ist auch die Bewertung von S. Döpp (Werke Ovids, dtv 4587, München 1992, 124 Anm. 12) nicht ganz korrekt, der davon spricht, daß illas „in den meisten Handschriften" stehe, denn es steht ja in allen. Auch Anderson, der die maßgebende textkritische Ausgabe (Leipzig 1982) vorgelegt hat, bleibt beim überlieferten illas, ebenso Brooks Otis, Ovid as an Epic Poet, Cambridge 1966, 45, Bömer, Heidelberg 1969, um nur einige weitere Belege zu nennen.

2. Man entscheidet sich dennoch für illa. Dann liegt, schon allein wegen der Stellung an Versanfang und Versende, die Verbindung mit corpora nahe. So versteht es auch Döpp S. 124: „denn ihr habt auch jene [Körper] verwandelt".

Die Lösungen 1. und 2. verstehen den Text im Grunde gleich. Die durch nam eingeführte Parenthese ist die Begründung für den „Musenanruf": Ihr Götter habt die Metamorphosen der Gestalten (formae bzw. corpora) bewirkt, steht also meinem Vorhaben jetzt bei.

Der antike Leser fand keine Satzzeichen oder Klammern vor (und der Hörer erst recht nicht!) und er wird, geschult am Satz- und Versbau epischer Dichtung, die beiden Wörter, wenn denn überhaupt illa der authentische Text ist, selbstverständlich aufeinander bezogen haben (die gleiche Sperrung kurz darauf 1, 10 nullus ... Titan). Hier ist kein Raum für irgendwelche Wortspielchen, denn sie hätte keiner verstanden.

3. Daher ist es nicht mehr als ein philologischer Schreibtischeinfall ohne Rücksicht auf die antiken Lese- und Hörgewohnheiten gewesen, wenn G. Luck, Hermes 86, 1958, 499f. in der singulären Korrektur aus dem Erfordensis Amplonianus Prior „den denkbar besten Sinn" sah. Luck erkennt in der Formulierung des Ovid eine Bestätigung der Verwandlung des Dichters vom Elegiker zum Epiker. Er rede die Götter an: „Ihr habt mich auf den neuen Weg gesetzt, nun helft mir weiter." Für Luck ist Ovid „in eine neue Phase seines Schaffens eingetreten".

All dies wäre gründlich anhand der durchaus leicht erreichbaren Literatur zu diskutieren, denn man muß schon gewichtigere Gründe als Luck in die Diskussion einführen, um einen Text gegen die gesamte Überlieferung und das Urteil großer Ovidkenner zu ändern, es sei denn, die Änderung kommt einem in Hinblick auf das, was erst durch die Interpretation zu gewinnen wäre, trefflich zupaß. So drängt sich denn die Vermutung auf, daß bereits am Anfang der Interpretation auf unsicherer Textgrundlage eine petitio principii eingeführt wird.

Unbezweifelbar und in der Forschung ebenfalls schon lange gesehen ist die Tatsache, daß Ovid mit seinen Lesern ein Spiel treibt, hier natürlich ein Spiel mit der traditionellen Form des Musenanrufs. Joachim Latacz hat das in einem Marktoberdorfer Vortrag bereits 1978 im Rahmen eines souveränen Überblicks über die Ovid-Forschung dargestellt (Joachim Latacz, Ovids Metamorphosen als Spiel mit der Tradition, in: P. Neukam [Hrsg.], Verpflichtung der Antike, Dialog Schule-Wissenschaft , Klassische Sprachen und Literaturen XII, München 1979, 5-49) und gezeigt, wie bereits seit den 60er Jahren (Doblhofer, von Albrecht) diese Bewertung des Ovid vorliegt.

Bei der eigentlichen Interpretation der Daedalus-Geschichte stellt F. zunächst fest, daß der Name, Daedalus, abgeleitet vom griech. Adj. daidáleos, „den Künstler schlechthin" bezeichnet. Unter dem Begriff „Künstler" subsumiert F. auch den Dichter und setzt sich damit über den Befund hinweg, den schon ein kurzer Blick in das Lexikon von Georges oder in den Thesaurus linguae Latinae ergibt: Daedalus und Ableitungen bezeichnen stets den bildenden Künstler, den Kunsthandwerker und sein Werk, nie den Dichter. Aber vielleicht könnte es ja Ovid so gemeint haben, denn: „Dass Ovid diese Assoziation hervorrufen will, legt schon allein die bewusste Verwendung des griechischen Akkusativs „Creten" in diesem Zusammenhang nahe" (14). Das Eigennamenregister bei Anderson gibt folgende Auskunft: Ovid nennt an 8 Stellen der Metamorphosen die Insel mit ihrer griechischen Namensform, nur einmal erscheint Cretam statt Creten: 13, 706 in der Junktur Cretam tenuere, wo die griech. Form (Creten tenuere) offensichtlich wegen der sonst kakophonischen Wiederholung der Silbe -ten gemieden wurde. Mit anderen Worten: Ovid gibt keinen Hinweis, und die Normalität konnte keinen Leser auf den Gedanken eines vorliegenden geistreichen poetologischen Spiels bringen. Für F. steht aber bereits jetzt fest: „Wir werden also nicht falsch gehen, wenn wir hinter dem Künstler Ovid selbst vermuten und die Metamorphose von Daedalus und Ikarus" als Künstlermetamorphose mit poetologischem Gehalt bezeichnen" (14).

Auf diesem für F. sicheren, aber philologisch mehr als trügerischen Grund wird nun munter weitergebaut: Daedalus alias Ovid „wird durch drei Aussagen näher charakterisiert: perosus exsilium, tactus amore, clausus pelago, er empfindet Hass, er empfindet Liebe, und er ist ein- bzw. ausgeschlossen" (14). Letztere Formulierung („bzw. ausgeschlossen") macht dann im Handumdrehen den Dädalus-Ovid zum exclusus amator, aber: „Er fügt sich nicht mehr wie der amator, der irgendwann von der verschlossenen Tür seiner puella abzieht, sondern begehrt auf, leistet Widerstand" (14). (Zwischenfrage: Warum hat F. nicht konsequenterweise perosus exsilium auf Ovids Verbannung gedeutet?) In diesem Zusammenhang erfahren wir auch, daß mit der wörtlichen Rede (V. 185ff.) „die Verwandlung des Künstlers" beginne, „wie sie im Proöm angekündigt wurde" (die oben vermutete petitio principii wird spätestens jetzt zur Gewißheit). Unter „Verwandlung" versteht F. den Plan des Daedalus, die Insel mit Hilfe eines Flugapparats zu verlassen. Ovid läßt Daedalus sagen at caelum certe patet; ibimus illac. Dazu notiert F.: „Die Alternative heißt „caelum", was nicht nur „Himmel", sondern auch „Instrument zu erhabener Arbeit" (Klotz) bedeutet!" (man beachte das Ausrufungszeichen), um dann fortzufahren: „Die Alternative für den in augusteischer Zeit nicht gerne gesehenen frechen Liebesdichter heißt Metamorphose vom Kallimacheer zum ernsthaften Epiker und Menschen." Vielleicht ist der Hinweis angebracht, „erhaben" bei Klotz meint caelatus, nicht praeclarus, und daß ein auch noch so gebildeter römischer Leser hinter der Wendung „aber der Himmel steht mit Sicherheit weit offen" den Doppelsinn „aber der/ein Meißel steht mit Sicherheit weit offen" herausgehört und das auch noch poetologisch gedeutet haben könnte, darf denn doch wohl bezweifelt werden. Fortgeführt werde diese Verwandlung mit der zweiten Rede des Daedalus (203ff.). In ihr gibt Daedalus dem Icarus Anweisungen über die Flughöhe; darin eine „Verwandlung" zu sehen, bleibt das Geheimnis von F. Mit der dritten Rede, in der Daedalus den Tod seines Sohnes beklagt (231ff.), sei die Verwandlung abgeschlossen.

Eine gewisse Tragik wird man dem Geschehen nicht absprechen. Jeder tragische Held ist in seinem Leid infelix. Hier demnach eine „unverkennbare Anspielung auf Dido" zu sehen (14), ist reine interpretatorische Willkür.

Nachdem zuerst Daedalus mit den oben dargestellten Interpretationskünsten zum verwandelten Dichter Ovid mutierte, muß nun der „Kallimacheer in Ovid" sterben, obwohl uns doch eingangs erklärt wurde, Ovid sei auch als Dichter der Metamorphosen Kallimacheer geblieben. Weil nun aber dem Mythos entsprechend nicht Daedalus stirbt, sondern Icarus,wird kurzerhand neben Daedalus auch Icarus zum Ovid erklärt. Icarus verkörpere „auf der metapoetischen Ebene das alter ego des Künstlers", und zwar deswegen, weil

1. Icarus in der ganzen Geschichte wortlos bleibe. F. weiß ja, wie man dichten muß: „Welcher Dichter, der „nur" die tragische Geschichte vom Absturz des Sohnes erzählen wollte, würde am entscheidenden Punkt der Handlung auf den markerschütternden Schrei des Kindes verzichten?"

2. Icarus „in dem Moment in Erscheinung tritt, in dem Daedalus seine Wandlung zum ernsten Dichter begonnen hat, und mehrmals dessen „Projekt" stört, und zwar durch seine fehlende Ernsthaftigkeit, durch sein Spiel!" (unterstrichen mit Ausrufungszeichen);

3. Icarus 213/214 als „tenera proles" bezeichnet wird, „wobei tener ... ausdrücklich auf die „schlanke" Musenkunst des Kallimachos anspielt".

Spätestens nach dieser Bewußtseinsspaltung in Daedalus und Icarus, die dem Ovid zugemutet wird, stellt sich die Frage, ob die auf gleiche Weise fortgeführte Interpretation des Restes der Metamorphose ernsthafter philologischer Kritik wert ist. Die Auseinandersetzung sei daher hier abgebrochen. Daß aber diese Interpretation in „Forum Classicum" 42, 1999, 223 als „genaue Textanalyse" bewertet wird, ist nur ein weiterer Beweis dafür, in welch erschreckendem Maße philologische Qualitätsansprüche abhanden kommen.

In einem Zusatz in DASIU 4/1999 S. 5 macht F. auf den oben genannten Beitrag von Latacz aufmerksam, der „die meinem Aufsatz zugrundeliegende Erklärungsrichtung der Metamorphosen begründet hat". Offenbar hat aber F. Latacz nicht gelesen, denn der spricht von der „Übertrumpfung des Kallimachos" (30), behandelt die Daedalus-Geschichte gar nicht und wählt (wie peinlich!) S. 19 die Lesart illas, um auf der gleichen Seite in Anm. 4 zu konstatieren: „Die teilweise abenteuerlichen Änderungsvorschläge haben die Qualität der oben abgedruckten überlieferten Fassung (gemeint ist illas; J. G.) erst eigentlich erkennen lassen." Dem ist nichts hinzuzufügen.

Damit keine Mißverständnisse aufkommen: Interpretation in der Schule lebt von spontanen Einfällen, der Lehrer wie der Schüler. Aufgabe des durch ein wissenschafliches Studium gebildeten Lehrers ist es aber, diese Einfälle mit philologischer Akribie am Text zu überprüfen, zu verifizieren oder falsifizieren; mikroskopisches Lesen hat hier seinen didaktischen Sinn und ist unverzichtbar. Wenn das jedoch nicht mehr geschehen sollte und derartige Interpretationen wie die hier angesprochene im wahrsten Sinne des Wortes „Schule machen" sollten, dann würde eines der wichtigsten Lernziele des Lateinunterrichts, nämlich die Erziehung zu einem sorgfältigen Umgang mit Wort und Text (in einer Zeit allgemeinen Mißbrauchs der Sprache und der hirnrissigen anglomanischen Sprachpanschereien notwendiger denn je), aufgegeben; Latein wäre dann als Schulfach nicht nur „in höchster Gefahr", sondern schlicht überflüssig.

Joachim Gruber