I. König:Aus der Zeit Theoderichs des Großen. Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar einer anonymen Quelle. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1997. Texte zur Forschung: 69. X, 270 S.

Eine der wichtigsten Quellen für das Ende des weströmischen Reiches und damit für die Zeit Theoderichs des Großen ist der sog. Anonymus Valesianus, auch als Excerpta Valesiana bezeichnet, benannt nach dem ersten Herausgeber Henri de Valois (1603-1678), der den Text aus einer im 8. oder 9. Jh. in Italien, vermutlich in Verona, entstandenen Handschriftensammlung in einer Abschrift seines Lehrers Jacques Sirmond seiner 1636 in Paris veröffentlichten Ausgabe des Ammianus Marcellinus anfügte. Die Excerpta umfassen zwei verschiedene Texte, von denen der erste eine Darstellung der Zeit von 305-337 bietet (Origo Constantini), der zweite die Zeit vom Regierungsbeginn des Kaisers Nepos (474) bis zum Tode Theodrichs (526) behandelt (von Mommsen Theodoriciana genannt). Zu dem heute in Berlin befindlichen Codex Berolinensis Philippsianus tritt für den zweiten Teil noch der Codex Palatinus Vaticanus 927. Für den hier vorgelegten Text hat K. die Hss. noch einmal durchgearbeitet. Der Ertrag liegt weniger in einer neuen Textgestaltung, „die sich nur geringfügig von der wichtigen Edition von Moreau-Velkov unterscheidet" (X), die 1968 bei Teubner erschien, sondern in der Beobachtung, daß die Theodoriciana eine Kompilation von mindestens sieben verschiedenen Werken darstellen (13). Der historische Wert des Textes, dessen Verfasser offensichtlich aus Norditalien, vielleicht aus der Umgebung von Ravenna stammte, liegt nach dem Verlust von Cassiodors Gotenschichte darin, daß er neben den Getica des Iordanes die einzige zusammenhängende Darstellung der Gotenherrschaft bietet (15). Dabei sieht der Anonymus im Jahre 476 keinen Bruch, da er die Ereignisse immer „aus der Sicht des Kaisers, d. h. des Reiches beurteilt" (17). Der offensichtlich Amaler-feindliche Schlußteil (79ff.) weist auf eine Entstehung nach dem Ende der Gotenherrschaft. K. setzt die Abfassungszeit jedoch nicht, wie bisher allgemein angenommen, in die Mitte des 6. Jh., sondern unter Berücksichtigung der Benützung von Prokops Anecdota, ins 7. Jh. (56ff.). Ob dieser Ansatz bestand haben wird, muß die weitere Forschung zeigen.

Die Textgestaltung weicht von der in einer kritischen Edition üblichen Anlage ab: In Ermangelung einer Zeilenzählung werden die Hinweise auf den kritischen Apparat jeweils durch Hochzahlen gegeben, was das Textbild nicht unwesentlich beeinträchtigt. Der Apparat selbst gibt leider nicht immer korrekte Auskunft. K. erklärt einleitend zu seiner Siglen-Liste: „Die Angabe der Textvarianten ist aufgrund der hervorragenden Textedition von Moreau-Velkov ... auf ein Mindestmaß beschränkt worden." a sei „Beifügung durch den Herausgeber", [a] „Tilgung durch den Herausgeber", das bedeutet dann aber in der Regel nicht König, sondern Moreau-Velkov oder frühere Herausgeber (Corrigendum: IX 41 lies Zeno statt Zenone). Textgestaltung und Kommentar können in Widerspruch treten. So wird z. B. VII 36 der Text so konstituiert: Augustulus imperavit annos4 X. Im Apparat erfährt man dazu, daß in B gegenüber P annos fehle, aber von zweiter Hand AN nachgetragen sei. Ansprechend wird dazu im Kommentar vermutet, daß in der Vorlage statt AN MEN (für menses) gestanden habe, was auch sachlich zutreffe. So stellt sich die Frage, warum dieses nicht im Apparat selbst vermerkt ist oder warum dort kein Hinweis auf den Kommentar erscheint oder warum K. nicht den Mut hatte, den Text und die Übersetzung entsprechend zu ändern. In gleicher Weise wie Textvarianten werden auch die Hinweise auf Blattwechsel in der Hs. B notiert -- ein durchaus unübliches Verfahren. So stellt denn die Textgestaltung einen Rückschritt gegenüber der Edition von Moreau-Velkov dar, und man hätte sich insgesamt mehr Professionalität gewünscht.

Die Übersetzung ist nicht zuletzt durch zahlreiche Ergänzungen in Klammern zielsprachenorientiert. Manches davon wäre sicherlich entbehrlich oder hätte besser in den Kommentar verwiesen werden sollen, so z. B. gleich am Anfang VII 36 „(Romulus) Augustulus"; VIII 37 „Notarius (Sekretär)"; ferner XI 49 „um Italien für ihn zu schützen (= zurückzugewinnen)" (hier fehlt im Kommentar ein Hinweis auf die Verwendung von defendere); geradezu überflüssig sind die Doppelfassungen geographischer Eigennamen wie XI 53 „des Flusses Addua (Adda)", die auch zu Fehlinformationen führen können, wie z. B. VII 36 superveniens Nepos ad Portum urbis Romae „der Patricius Nepos, der überraschend im Hafen (Ostia) der Stadt Rom erschienen war": Gemeint ist aber nicht Ostia, sondern Portus, worauf zwar im Kommentar hingewiesen wird, was K. aber nicht hindert, gleich anschließend im Kommentar zu formulieren „die vom Anonymus gewählte Bezeichnung portus Urbis" (sic!) „zeigt, daß der Autor Rom immer noch als ‚Urbs', d. h. als politisches Zentrum sieht" -- ein gewagter Schluß. Auch hätte die Übersetzung etwas vom schlicht-unbeholfenen Stil des Anonymus vermitteln sollen, z. B. dessen Polysyndeta mit et; sie werden häufig unterschlagen.

Der Kommentar beschränkt sich auf das Historisch-Faktische und verweist für alle sprachlichen Erscheinungen auf die akribische Untersuchung von J. N. Adams (London 1976).

Er ist materialreich und bietet durch seine ausführlichen Literaturhinweise guten Zugang zu einem weiteren Eindringen in die Detailproblematik. Leider ist die Zitierweise der lateinischen Autoren nicht der Norm des Thesaurus angepaßt; ein Stellenregister fehlt. Gelegentlich stören Formulierungen wie „die dolus" (205) oder fehlerhafte Akzente in den griechischen Zitaten (143). Für die intendierten Leser, die des Griechischen sicher nicht mehr so mächtig sind wie es sich für Althistoriker früher von selbst verstand, wäre wohl eine Übersetzung der griechischen Zitate hilfreich. Das Namenregister ist lückenhaft.