M. Sicherl: Griechische Erstausgaben des Aldus Manutius. Druckvorlagen, Stellenwert, kultureller Hintergrund. Paderborn/München u.a. (Ferdinand Schöningh) 1997. Studien zur Geschichte und Kultur des Altertums. N. F. 1. Reihe: Monographien. 10. 386 S. VIII Tafeln. DM .

Die in diesem Band vereinigten 6 Kapitel sind zu einem großen Teil bereits früher erschienen, wurden aber für die Neupublikation überarbeitet. Neu ist eine umfangreiche Abhandlung zu den griechischen Epistolographen sowie ein Anhang zu weiteren Vorlagen griechischer Aldinen. Hinter dem von Sicherl (im folgenden: S.) gewählten nüchternen Titel, der scheinbar nur den Spezialisten zu interessieren vermag, verbirgt sich jedoch eines der erregendsten Kapitel der Geschichte der Klassischen Philologie. "Die epochemachende Bedeutung der Aldinen für die Textgeschichte beruht darauf, daß die nachfolgenden Druckausgaben sich in der Regel auf sie stützten und deren Texte bestenfalls durch Heranziehung neuer Handschriften oder auch nur konjektural hie und da verbesserten. Auf diese Weise entstand die Vulgata, die bis ins 19. Jh. das Feld beherrschte" (2). Unter diesem Aspekt kommt dem Nachweis der Druckvorlagen des Aldus besondere Bedeutung zu. Zwar sind zahlreiche Codices, die als Druckvorlagen dienten, in der Druckerei auseinandergenommen worden und später untergegangen, aber dennoch lasse sich, nicht zuletzt durch den Fortschritt des kodikologischen Interesses noch zahlreiche Handschriften nachweisen, deren Gebrauchsspuren auf eine Verwendung als Druckvorlagen hinweisen. S. hat in jahrelanger Forschung diesen Dokumenten nachgespürt und kann daher in der Einleitung des vorliegenden Werkes einen souveränen Überblick über die Tätigkeit nicht nur des Aldus geben, sondern dessen Beziehungen zu den griechischen, italienischen und deutschen Humanisten (Cuno, Beatus Rhenanus, Pirckheimer) dieser Zeit. Das 1. Kapitel beschäftigt sich mit der Musaios-Ausgabe und ihrer lateinischen Übersetzung. Dieser Text erfreute sich in der Renaissance und später großer Beliebtheit und übte eine starke Wirkung auf die modernen Literaturen aus (11). Darüber hinaus eignete sich das Werk für das Erlernen des Griechischen, so daß es von Aldus, der sich auch um Hilfsmittel für das Griechischstudium kümmerte, als elementares Lesebuch herausgebracht wurde (12). Im Zusammenhang mit der Untersuchung möglicher Druckvorlagen gelingt S. eine Korrektur des bisher vorliegenden Stemmas der Musaios-Hss. Die Untersuchung der handschriftlichen Vorlagen der Editio princeps des Aristoteles (Kapitel 2) führt hinein in die philosophischen Interessen italienischer Humanistenkreise. Wurde doch zu dieser Zeit der zunehmenden Beschäftigung mit Aristoteles dadurch Rechnung getragen, daß an der Universität Padua 1497 ein eigener Lehrstuhl für das Aristotelesstudium errichtet wurde (31f.). Die Umstände der Entstehung des fünfbändigen Druckwerks geben einen Einblick in die Aristotelesstudien der griechischen (wie Demetrios Chalkondyles, 111) und italienischen Humanisten um die Wende vom 15. zum 16. Jh. wie auch in die Bildungsvoraussetzungen des Aldus selbst, der schon in seinen Studienjahren in Rom mit Aristoteles bekannt geworden war (109).Einzeluntersuchungen zu den Drucken der historia animalium, der Metaphysik, der Ethiken, Politik und Ökonomik sowie der botanischen Werke des Theophrast schließen sich an, wobei S. stemmatische Entscheidungen neuerer Herausgeber berichtigen kann. Seit der Spätantike ist die Einführung (Eisagoge) des Porphyrios in das Aristotelische Organon für das Studium des Stagiriten unentbehrlich geworden. Boethius hatte sie ins Lateinische übersetzt und kommentiert. In der Aldina wie schon in den Handschriften wurde sie dem Organon vorangestellt (73). Die Untersuchung der Druckvorlagen für diese und weitere Aristotelica führt daneben zu dem wichtigen Ergebnis, daß die seit 1469 in Venedig befindliche Bibliothek des Kardinals Bessarion keine Vorlagen für die Aldinen bot, weder direkt noch indirekt über Abschriften (99). Bei dieser Gelegenheit gibt S. einen kurzen Abriß über Geschichte dieser berühmten Sammlung griechischer Handschriften. Auch Aristophanes (Kapitel 3) gehörte wegen seines reinen Attisch für die Humanisten zu den Schulautoren und wird daher häufig abgeschrieben und kommentiert, v.a. der Plutos (115). Ebenso wie Terenz sollte er auswendig gelernt werden. "In gewisser Weise setzt also die Aristophanes-Ausgabe die Reihe der Hilfsmittel zum Erlernen des Griechischen fort" (116). Die Untersuchung der Aristophanes-Scholien führt auf Demetrios Triklinios, dessen Einschätzung durch Wilamowitz "als der erste moderne tragikkritiker" sich bestätigt (151). Das 4. Kapitel ist der Aldina der Epistolographen gewidmet. Diese Gattung erfreute sich im byzantinischen Mittelalter wie in der Renaissance großer Beliebtheit (155) und daher konnte eine Ausgabe der antiken griechischen Epistolographen auf großes Interesse rechnen. Im Grunde wurde diese Ausgabe nach der Edition von Hercher 1873 erst durch moderne textkritische Ausgaben unseres jarhunderts ersetzt (zusammenfassender Überblick 159f.). S. überprüft die Überlieferung der einzelnen Epistolographen, bei der die Handschriftenproduktion des 15. und beginnenden 16. Jh. auf Kreta eine besondere Rolle für die Aldina spielt (191). Insgesamt ergibt sich aus der Untersuchung der Druckvorlagen für die Epistolographi, daß Aldus nicht wahllos die erste beste Handschrift auswählte, sondern er "bevorzugte Handschriften, die von Gelehrten geschrieben waren lder auf einer gelehrten Rezension beruhten" (287). Das kurze 5. Kapitel ist der Editio princeps Aldina des Euripides und ihren Vorlagen gewidmet, das 6. der Ausgabe der Rhetores Graeci. Auch sie blieb "in einigen ihrer Teile bis ins 17. und selbst bis ins 19. Jh. unersetzt" (311). Im Anhang werden die Druckvorlagen von weiteren 8 griechischen Autoren kurz besprochen. Ein dreiteiliges Register (Personen, Sachen, Handschriften) sowie 8 Tafeln mit Fotografien ausgewählter Handschriftenseiten beschließen das Werk, das dem Kodikologen eine Fülle von Details und dem an der Geschichte der Klassischen Philologie Interessierten fundeirte Einblicke in eine der wichtigsten Epochen der Überlieferungsgeschichte unserer Texte bietet.