H. Köhler: C. Sollius Apollinaris Sidonius, Briefe Buch I. Einleitung - Text - Übersetzung - Kommentar. Heidelberg (Winter) 1995. Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften N.F. 2. Reihe Bd. 96. VIII, 350 S. DM 138.-.

 

Sidonius Apollinaris, aus gallorömischem Adel, gehört nicht nur zu den hervorragenden kirchenpolitischen Gestalten Galliens des 5. Jh., sondern ist auch einer der führenden Vertreter der lateinischen Literatur dieser Zeit, dessen Panegyrici und Briefe wichtige Dokumente des politischen, kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens darstellen. Sprache und Inhalt dieser Texte stellen hohe Anforderungen an einen Erklärer. Darin mag wohl auch der Grund liegen, daß die Beschäftigung mit diesem Autor nicht gerade als intensiv bezeichnet werden kann. Der von Frau Köhler (im folgenden "K.") vorgelegte, schon äußerlich und typographisch ansprechend gestaltete Kommentar ist daher hochwillkommen; er beschäftigt sich mit dem 1. Buch des Briefcorpus, das 11 Stücke umfaßt. Die Einleitung informiert knapp, aber kundig über den Autor (3-6), das Briefcorpus (6-18), die Sprache (18-25) und die Textgestaltung (25-31) und gibt Auskunft über über Absicht und Anlage von Übersetzung und Kommentar, der im Gegensatz zu den älteren, stärker historisch-antiquarisch orientierten Arbeiten sich bemüht, "nicht nur die sprachlichen, literarischen und epistolographischen Wurzeln dieser Texte freizulegen und ihre historischen und sachlichen Bedingungen soweit wie möglich zu erläutern, sondern auf dieser Grundlage zu einer Interpretation jedes Briefes zu gelangen, die von der Intention des Autors nicht allzu weit entfernt ist" (32). Es folgen synoptisch Text (ohne Apparat) und Übersetzung, die den ersten Versuch darstellt, das eigenwillige Latein des Sidonius ins Deutsche zu übertragen (35-97). Die Kommentierung des Widmungsbriefes bespricht neben Sprachlichem und Realien besonders die Rolle der Topoi dieser in der Spätantike häufigen Textsorte. Brief 2 beschäftigt sich mit der Gestalt des Westgotenkönigs Theoderich II. und ist daher nicht nur von historischem Interesse, sondern will auch im Zusammenhang mit Physiognomik und Panegyrik, Biographie und Personendarstellung gesehen werden. Frau K. bespricht das alles umsichtig, mit genauer Kenntnis der verbreiteten Literatur und auch, in Anlehnung an Berschin, unter Berücksichtigung der breiten mittelalterlichen Sidonius-Rezeption (122f.). Der knappe 3. Brief ermuntert einen Freund, Karriere zu machen und auf die entsprechende dignitas zu achten, gehört demnach in die Textsorte der Mahnschreiben. Eine andere Art begegnet in epist. 4a, einem Glückwunschbrief "in besonders sorgfältiger Stilisierung" (175), die der Kommentar gut herausarbeitet. Brief 5 beschreibt eine Reise von Lyon nach Rom und reiht sich damit in die seit Lucilius gepflegte Gruppe der Reisegedichte. Eine weitere Adhortatio stellt epist. 6 an den späteren PP Galliarum (epist. 3, 6) Eutropius dar, der zum Dienst am Kaiserhof aufgefordert wird. Der relativ umfangreiche 7. Brief beschäftigt sich rechtfertigend mit dem Eintreten des Sidonius in einem Prozeß gegen den befreundeten Arvandus. Brief 8 gibt das Beispiel eines Städtelobs, allerdings in negativer Umkehrung, epist. 9 setzt epist. 5 fort und schildert die Tätigkeit der Gesandtschaft in Rom. Brief 10 steht im Zusammenhang mit der Ernennung des Sidonius zum praefectus urbi 384 und handelt von einer der Hauptaufgaben dieses Amtes, der Getreideversorgung Roms. Im letzten Brief der Sammlung rechtfertigt sich Sidonius, eine Satire verfertigt zu haben und zeigt gleichzeitig, daß er mit dieser Gattung aufs beste vertraut ist. Ein angemessenes Literaturverzeichnis schließt den Band ab. Leider fehlt ein Personen-, Begriffs- und Sachregister. Man wünschte sich, daß mit der Arbeit von Frau K. der Anstoß zu weiteren Kommentaren einzelner Werke des Sidonius und seiner Zeitgenossen gegeben wäre.



Erschienen in der Zeitschrift "Gymnasium" 105, 1998, 158-159

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