D. Wuttke: Dazwischen. Kulturwissenschaft auf Warburgs Spuren. Baden-Baden (Valentin Koerner) 1996. Saecula spiritalia: 29/30. XXIV, 883 S. in 2 Bd. 4 Farbt., 180 Abb.

 

In der Erforschung der umfangreichen lateinischen Literatur, welche die deutschen Renaissance-Humanisten zwischen 1450 und 1600 hervorgebracht haben, sind zwar in den letzten beiden Jahrzehnten Fortschritte zu verzeichnen. Insgesamt handelt es sich aber um ein Gebiet, das im Schnittpunkt von Rezeptionsforschung, Germanistik, Kunst- und Kulturwissenschaft zu den eher weniger gründlich bearbeiteten Feldern der lateinischen Literatur gehört. Parallel dazu spielt die Lektüre humanistischer Texte im Lateinunterricht nur eine sehr geringe Rolle. Die von Wuttke (im folgenden: W.) 1983 vor Deutschlehrern im Bamberg aufgestellte Bilanz hinsichtlich der Literaturkenntnisse seiner Studierenden ("Erstaunlich ist auch die vollständige Vernachlässigung neulateinischer Literatur, wenn man bedenkt, daß nicht wenige Gymnasien der Region neulateinische Autoren zum Namenspatron erwählt haben", 298) dürfte heute nicht wesentlich anders ausfallen. Zu konstatieren ist die paradoxe Situation, daß zwar 'Europa' zu einer gängigen Münze altsprachlicher Apologetik geworden ist, daß aber gerade die Epoche der frühen Neuzeit aufgrund eines immer noch vorherrschenden traditionellen Verständnisses von Lateinunterricht weitgehend ausgeklammert wird. Und dennoch gehen von der Epoche des Renaissance-Humanismus, in der eine Rückbesinnung auf die klassische Antike mit einem ungeheuren Fortschrittsbewußtsein verbunden war und dieses Bewußtsein von den Protagonisten vorwiegend lateinisch artikuliert wurde, unbestreitbar stärkere unmittelbare Impulse für die Gegenwart aus als von der klassischen Antike selbst. Um diese Voraussetzungen wieder einmal ins Bewußtsein zu rücken und um auch auf diese Weise zu einer Humanistenlektüre zu ermuntern, werden ergänzend zur Besprechung der beiden anzuzeigenden Werke kurze Hinweise auf weitere neuere Arbeiten zum deutschen Renaissance-Humanismus gegeben werden, die den Zugang zu diesen Texten erleichtern. Scheitert doch die Lektüre humanistischer Texte im Unterricht wohl nicht zuletzt daran, daß die künftigen Lehrer während ihrer Ausbildung in der Regel mit diesen Gegenständen nicht in Berührung kommen. Auf germanistischer Seite hat man dieses Defizit erkannt und das von Hans-Gert Roloff (Berlin) herausgegebene Jahrbuch für Internationale Germanistik versucht, auch die neulateinische Literatur deutscher Humanisten in die literaturwissenschaftliche Diskussion mit einzubeziehen. Für die Klassische Philologie spielt dagegen die Rezeptionsforschung eine nur untergeordnete Rolle. Beiträge von Walther Ludwig in Hamburg oder Niklas Holzberg und Wilfried Stroh in München sind eher die Ausnahme.

 

Der Untertitel von W.s ausgewählten Schriften zeigt, welchem wissenschaftstheoretischen Ansatz sich der Autor verpflichtet fühlt. Abby Warburg (1866-2929) kann nicht nur als der Begründer der modernen Kunstgeschichte gelten, sondern hat mit seinem die engen Fachgrenzen überschreitenden Interpretationsansatz auch eine Methode entwickelt, die sich gerade für die Humanismusforschung als besonders fruchtbar erwiesen hat. Nur durch die allseitige Zusammenschau von Historie, Text- und Kunstwissenschaft sind Gestalt und Werk von Männern wie Albrecht Dürer oder Konrad Celtis oder von Phänomenen wie "Nürnberg als Symbol deutscher Kultur und Geschichte" (539-584) zu erfassen. W.s Werk belegt die Fruchtbarkeit dieses Zugriffs aufs schönste. Der Sammelband gliedert sich in zwei Teile: I. Fälle (3-613), II. ...auf deren Schultern wir stehen (617-766). Ein Anhang mit einer Auswahlbibliographie 1958-2995, Verzeichnis der Abbildungen und Bildquellennachweis sowie einem ausführlichen Register beschließen die vorbildliche Ausgabe; vorbildlich nicht zuletzt deshalb, weil die jeweiligen Beiträge durch Ergänzungen wenigstens ansatzweise über den Diskussionsstand zur Zeit ihrer Erstveröffentlichung hinausgeführt werden und weil das reiche Material auch durch einen sorgfältigen Index erschlossen wird. Eröffnet wird die Reihe der 21 'Fälle' mit vier Arbeiten über die Nürnberger Erzgießerfamilie Vischer, beginnend mit dem programmatischen Titel "Kunstgeschichte und Philologie". Die grenzüberschreitende Zusammenschau, die der Kunsthistoriker Warburg von der Kunstgeschichte her angegangen hatte, unternimmt der Germanist von sorgfältigen Einzelbeobachtungen an Dokumenten aus. Mögen die Ergebnisse der Vischer-Beiträge in erster Linie für den Spezialisten von Interesse sein, so zeigen sie doch vorzüglich die Methode, mit der W. arbeitet, und so hält er es mit seinen Vorbildern Warburg und Panofsky, die ihre Methoden nicht so sehr theoretisch formulierten (auch wenn sie sich natürlich über ihre Methoden äußerten), als vielmehr praktisch demonstrierten. Panofskys Satz "Über Methoden reden heißt ihre Anwendung verhindern" (zitiert 105) ist eine Richtschnu auch von W.s Arbeiten.

 Mit der Frage der Identifizierung des Humanisten Gregorius Arvinianus beginnt die Reihe der Arbeiten, die sich mit Sebastian Brant und dem Straßburger Humanismus sowie mit der Humanistenliteratur in Nürnberg um 1500 beschäftigen. Gregorius Arvinianus aus dem Elsaß studierte in Heidelberg und kam 1504 nach Nürnberg, um bald an die Universität Erfurt weiterzuziehen. Er stellt also ein Bindeglied zwischen dem Elsässer und dem Nürnberger Humanismus dar. Sebastian Brant sind zwei Beiträge gewidmet. In dem einen wird gezeigt, daß Brant keineswegs, wie zwei Passagen des Narrenschiffs vermuten lassen (Kap.11 und 65), dem Glauben der Zeitgenossen an Astrologie und Wunderzeichen aufklärerisch gegenüberstand, sondern vielmehr ganz als Kind seiner Zeit mirakulösen Erscheinungen höchste Aufmerksamkeit schenkte. Das gilt besonders für den berühmten Donnerstein von Ensisheim, in dem Brant nicht nur ein Vorzeichen für den Tod Friedrichs III. sah, sondern auch für die Siege Maximilians über Frankreich.

 Besonderes Interesse im Sinne einer Hinführung in ein Zentrum humanistischer Weltsicht dürfen die beiden Beiträge "Dürer und Celtis. Von der Bedeutung des Jahres 1500 für den deutschen Humanismus . 'Jahrhundertfeier als symbolische Form'" und "Humanismus als integrative Kraft. Die Philosophia des deutschen 'Erzhumanisten' Conradus Celtis. Eine ikonologische Studie zu programmatischer Graphik Dürers und Burgkmairs" beanspruchen. Im Bild der Philosophie verdichten sich wie kaum sonst die universalen Vorstellungen, die Celtis mit seinen Amores verknüpfen wollte. Er, der sich nicht nur als vates im Sinne der augusteischen Dichter verstand (bei den späteren Humanisten wurde der Begriff zur gängigen Bezeichnung für poeta), sondern als philosophus, der in zehnjähriger real-fiktiver Wanderschaft vor allem den deutschen Raum nach allen vier Seiten erkundete und diese Erkundung zur Basis seiner Weltdeutung machte,1 veranlaßte Dürer in einem vieldeutigen Holzschnitt, der der Amores-Ausgabe von 1502 beigegeben war, die Summe dieser Philosophie darzustellen. Weiteren Aufschluß über das Selbstverständnis des Celtis gibt das von Hans Burgkmair geschaffene Sterbebild, dem zuletzt Franz Josef Worstbrock2 weiterführende Studien gewidmet hat. Dürer selbst wird aufgrund einer genauen Analyse der humanistisch geprägten Beischrift auf dem berühmten Selbstbildnis von 1500, das sich heute in der Alten Pinakothek in München befindet, als humanistischer Künstler interpretiert. Gerade dieser Beitrag zeigt wiederum, wie W. von genauen Detailbeobachtungen ausgehend zu einem vertieften Verständnis eines vielbehandelten Kunstwerks gelangen kann. Besonders in Hinblick auf eine Humanistenlektüre im Lateinunterricht sind W.s Aussagen über die Rolle des Lateinischen in der Zeit um 1500 von Bedeutung. Latein ist eben damals nicht nur die Sprache eines kleinen elitären Zirkels, wie es gelegentlich aus Unwissenheit oder absichtlich dargestellt wird,3 sondern es ist die internationale Sprache all derer, die am Fortschritt und den Entdeckungen dieser Zeit teilhaben, darin dem Englischen in unseren Tagen vergleichbar. "Dieses Latein galt damals als das Instrument des 'Fortschritts', Fortschritt verstanden als Erneuerung des Verhältnisses Mensch-Gott und, mt Blick auf diese wichtigste Aufgabe, als Erneuerung der Sittlichkeit, der Wissenschaften, des Unterrichts und der Künste und als Erneuerung der Politik im Sinne einer eindeutigen Stärkung der Reichsspitze" (331). Daher wurden auch die Entdeckungsberichte der spanischen und portugiesischen Seefahrer nicht nur in den Nationalsprachen, sondern auch in lateinischen Übersetzungen4 verbreitet, wie der Beitrag "Humanismus in den deutschsprachigen Ländern und Entdeckungsgeschichte 1493-2534" (483-537) vielfach belegt. W. schließt daher seinen oben zitierten Passus zu Recht mit der Bemerkung (331f.) "Das alles ist für uns heute kaum noch begreiflich, wo nun selbst das Latein die letzten Rückzugsgefechte in unserem Bildungssystem ficht, also hoffnungslos mit dem Odium reaktionärer Rückschrittlichkeit behaftet zu sein scheint." Es liegt an den Vermittlern des Lateinischen, diesem Odium nicht zuletzt durch eine immer wieder erforderliche Überprüfung des Lektürekanons entgegenzutreten.

 Der dritte Teil der Publikation ist den Vertretern der Kunstgeschichte gewidmet, denen sich W. besonders verpflichtet fühlt: Abby Warburg und Erwin Panofsky. Das Schicksal der Bibliothek Warburg und die Biographie Panofskys sind aufs engste mit der jüngeren deutschen Geschichte verbunden. Es ist auch des Nachdenkens wert, inwieweit das teilweise übersteigerte Nationalgefühl der deutschen Humanisten, ausgelöst durch die Wiederentdeckung der Germania und geschärft in der Distanzierung zu Italien und Frankreich, auch eine Wurzel für eine unheilvolle Entwicklung der deutschen Geschichte wurde.Auf das weite Feld, das sich von hier aus für eine Rezeptionsgeschichte der Germania auftut, hat z.B. Manfred Fuhrmann wiederholt hingewiesen.5 So gesehen bietet die Germania-Lektüre in Verbindung mit ihrer Rezeptionsgeschichte dem Lateinunterricht eine Möglichkeit echter Aktualisierung, die weit entfernt ist von manchen krampfhaftenVersuchen modernistischer Didaktik. Der Vortrag "Nürnberg als Symbol deutscher Kultur und Geschichte" (539-584) zeigt die Aktualität der um 1500 lebendigen Gedanken auf eindringlichste Weise. W. deutet 546f. die Linie an, die sich von der Deutschlandkarte eines Erhard Etzlaub von 1501 (Abb. 116 bei W.), auf der sich Nürnberg im Mittelpunkt Europas befindet,6 zur Stadtplanung des Nationalsozialismus ziehen läßt, der Nürnberg wieder zum Mittelpunkt des Reiches, ja Europas machen wollte. Celtis' Norimberga einmal unter diesem Aspekt betrachtet dürfte sicher eine fruchtbare Humanistenlektüre sein.7

W.s Schriften zur Humanismusforschung stellen eine Fülle von Anregungen bereit, die die Forschung aufgreifen muß, die aber auch dem Lateinlehrer neue Horizonte zu erschließen vermag, die er dann mit geringem Aufwand auch seinen Schülern eröffnen kann.

 

Anmerkungen

 
1 Vgl. dazu vorläufig Verf.: Von der neunfachen Sicht der Dinge. Conrad Celtis' Amores als humanistisches Bildungsprogramm. In: Gruber, J., Maier, F. (Hrsg.): Humanismus und Bildung -- Zukunftschancen der Tradition, Beiträge zur Bildungstheorie und zur Didaktik der Alten Sprachen II, Bamberg 1991, 106-218 sowie den in der Reihe "Dialog Schule-Wissenschaft" 1998 erscheinenden Beitrag "Vergnügliche Humanistenlektüre".
 
2 Worstbrock, F. J.: Konrad Celtis. Zur Konstitution des humanistischen Dichters in Deutschland. In: Boockmann, H. u.a. (Hrsg.): Literatur, Musik und Kunst im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1989 bis 1992. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-historische Klasse, 3. Folge Nr. 208. Göttingen 1995, 9-35. 
 
3 So z.B. in dem auch sonst an Mißverständnissen und Fehlinformationen reichen Beitrag von Karin Schneider-Ferber über "Celtis und der deutsche Humanismus" in "Geschichte mit Pfiff" 5/96, 19f. Ich verdanke den Hinweis auf diesen Artikel Christoph Graf. 
 
4 Vgl. dazu jetzt Schaible, B.: Amerigo Vespucci, Mundus Novus. Anregung 43, 1997, 329ff. 
 
5 Fuhrmann, M.: Die Germania des Tacitus und das deutsche Nationalbewußtsein. In: Ders.: Brechungen. Wirkungsgeschichtliche Studien zur antik-europäischen Bildungstradition. Stuttgart 1982, 113-228 (zuerst AU 21/1, 1978, 39-49) . Weitere Literatur zur Germania-Rezeption unter http://www.klassphil.uni-muenchen.de/~gruber. 
 
6 Eine gute Wiedergabe der Karte in: Johannes Cochlaeus, Brevis Germanie Descriptio (1512), mit der Deutschlandkarte des Erhard Etzlaub von 1501. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Karl Langosch. Darmstadt 1960 (Ndr. 1969, 1976). Zu Leben und Werk des Kartographen vgl. Schnellbögel, F.: Life and Work of the Nuremberg Cartographer Erhard Etzlaub ( 1532). Imago Mundi 20, 1966, 11-26 und im größeren Zusammenhang Machilek, F.: Kartographie, Welt- und Landesbeschreibung in Nürnberg um 1500. In: Harder, H.-B. (Hrsg.): Landesbeschreibungen Mitteleuropas vom 15. bis 17. Jahrhundert. Köln/Wien 1983, 1-22. 
 
7 Ausgabe von Werminghoff, A.: Conrad Celtis und sein Buch über Nürnberg. Freiburg 1921. 



Erschienen in der Zeitschrift "Gymnasium" 106, 1999, 163-166

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